Katastrophale Armut in Sofia: Hunger!

Nacht für Nacht bilden sich in der bulgarischen Hauptstadt lange Schlangen vor den Kaufhäusern  ■ Aus Sofia Roland Hofwiler

Nachts wirkt Sofia gespenstisch. Wenn die letzten Kneipen und Restaurants bereits gegen neun schließen, fällt die Stadt in tiefes Dunkel. Hier und da nur eine Straßenlaterne die brennt, da und dort ein Streikposten mit einer Fackel in der Hand. Autos fahren keine, selbst die Polizei geht nur zu Fuß auf Patrouille. Die Nachtbars in den Superluxushotels wie dem „Otani“, dem „Evropa“ oder dem „Moskva“, sie müßten eigentlich offen halten, aber auch sie schließen. Kinos und Theater spielen schon seit Tagen kein Programm. Eine Millionenmetropole vollkommen verlassen und ausgestorben?

Nicht ganz. Vor manchen Kaufhäusern sammeln sich so große Menschenmassen, daß man glauben möchte, jeden Augenblick müßten diese öffnen — dabei ist es mitten in der Nacht. Der Eindruck trügt, man öffnet auch hier, wie überall in Europa, gegen acht, neun Uhr in der Früh. Aber um dann überhaupt eingelassen zu werden, müssen die Menschen schon mitten in der Nacht anstehen. Die Wartezeiten für Brot liegen bei drei Stunden, für Milch bei vier, für Fleisch, Eier, Mehl und Frischgemüse bei fünf bis zehn Stunden. Wer nicht gut zu Fuß ist, verhungert. „Ja — er verhungert!“ erzählen einem die Wartenden. In den letzten Wochen sei es die Regel geworden, daß alle Geschäfte überhaupt nur für zwei, drei Stunden geöffnet halten, Einlaß wird nur einzeln gewährt. Die Brotlieferungen sind so knapp bemessen, daß eine Bäckerei, die in alten Zeiten mehrere tausend Kunden am Tage zählte, nur noch eine kleine Stammkundschaft bedienen kann. „Was sind schon hundert Brotlaibe auf tausend Einwohner“, erklärt einer der vielen, der in der Knjaz-Dondurov-Straße vor einem der größten Kaufhäuser des Landes wartet, „viele müssen sich von Brot allein ernähren, denn Reis, Mais, selbst Kartoffeln haben sie lange nicht gesehen.“ Was er nun zu kaufen gedenke, möchte ich wissen. „Alles, wofür mein Lohn reicht.“

Er ist nicht der einzige, der sich am Zahltag abends sofort in die riesigen Schlangen vor den großen Kaufhäusern einreiht und sich selbst nicht von einem großen Schild an dem Geschäft abbringen läßt, auf dem steht: „Wegen Lieferproblemen die nächsten Tage nicht geöffnet.“ Man kann nie wissen, wenn Ware kommt, ist man vielleicht der erste. Und der erste zu sein, bedeutet viel. Da lohnt es sich sogar, Tag und Nacht vor einem Kaufhaus zu warten, sich von Frau und Kindern immmer wieder ablösen zu lassen, aber immer in der Reihe zu bleiben. Denn die wenigen, die nach langer Nacht endlich zupacken dürfen — und sei es nur für Brot und für die alten Fleisch- und Fischkonserven — finden auf dem Schwarzmarkt gleich wieder Abnehmer und können die Produkte zu schwindelerregenden Preisen weiterverscherbeln. Und dann geht es eben wieder zurück zur Schlange und zum Warten.

Aber das bilde doch bald einen Kreislauf, der zum Paradoxon führe, jeder kaufe, jeder verkaufe, jeder warte. Recht habe ich, sagen die Durchgefrorenen, immer weniger komme überhaupt in die Geschäfte, das Warten und Schlangestehen werde immer mühseliger, auch käme der Winter, da sei es mit der Ausdauer dahin, und die Menschen hätten keine Leva mehr, um den Schwarzmarkt aufzusuchen. Ein alter Rentner, der sich einen Klapphocker und ein kleines Transistorradio mitgebracht hatte, um so die kalten Nachtstunden besser durchzustehen, lächelt durch seine Zahnlücken und meint: „Die Alten, die stellen sich an, um die Jungen zu versorgen, und die Jungen, die kämpfen, um die Kommunisten zu verjagen, weil es so nicht mehr weitergehen kann, deshalb gibt es doch den Generalstreik.“ Aber auch Geschäftsplünderungen. Zumindest waren gestern in der Frühe mehrere Fensterfronten von Geschäften in der Sofiaer Innenstadt eingeschlagen. Wer hatte da gewütet? Militante Streikende, Provokateure oder einfach hungernde Menschen? Von Brot und Milch, von anderen lebenswichtigen Produkten ganz zu schweigen, war jedenfalls gestern in Sofia nichts zu sehen. Nichts.