: Aus für „Gesellschaftstheorien“
■ Sämtliche Mitarbeiter der Sektion „Gesellschaftstheorien“ an der Karl-Marx-Universität in Leipzig werden entlassen/ Dissertationen in Frage gestellt/ Gruppe „Ausländerintegration“ auch betroffen
Leipzig (taz) — Mit Wirkung vom 1.Dezember sind alle 58 Mitarbeiter der Sektion „Gesellschaftstheorien“ an der Karl-Marx-Universität entlassen. Mit diesem Rektorbeschluß finden die Bemühungen der ehemaligen Sektion „Wissenschaftlicher Kommunismus/Sozialismus“, ihr sozialwissenschaftliches Potential in die neue Zeit zu retten, ihr Ende. Die damit verbundene Auflösung der Projektgruppen „Soziale Kommunikation“ und „Ausländerintegration“ stößt dabei innerhalb der Universität auf einigen Unmut.
Das Internationale Studentenkomitee der Karl-Marx-Universität protestiert mit 500 Unterschriften gerade gegen die Liquidierung der Gruppe „Ausländerintegration“, die seit rund einem Jahr eine unschätzbare Arbeit für die in Leipzig studierenden Ausländer geleistet hätte. Darüber hinaus kamen auf einem Forum mit Professor Dieter Wartenberg, einem Mitglied des provisorischen Rektoratskollegium, am letzten Dienstag, daß vom Studentenrat und dem Sprecherrat des akademischen Mittelbaus anberaumt worden war, die nach wie vor ungelösten Strukturprobleme der Universitätversität zur Sprache, die sich just an der Auflösung der Sektion „Gesellschaftstheorien“ entzündeten. Wartenberg hatte verkündet, daß „nicht die Leistungsfähigkeit des einzelnen Wissenschaftlers entscheidend“ sei für seine Weiterbeschäftigung oder Entlassung.
Gegen diese konzeptionslosen Stellenkürzungen, die unter dem Vorwand „Disproportionen“ zu bekämpfen, durchaus fähige Wissenschaftler vor allem im sozialwissenschaftlichen Bereich aus der Universität drängen, verwahrte sich die Soziologin Dr. Franzke. Die Verantwortung als vorrangige Ideologieträger des alten Systems dürfe nicht dahin umgedeutet werden, daß nur Makulatur produziert worden sei. Der Rechtswissenschaftler Dr. Grahm bemängelte das Fehlen jeglicher kritischer Selbstreflexion im deutschen Westen, schließlich sei auch dort der Sinn bestimmter sozialwissenschaftlicher Bereiche fragwürdig geworden, da deren analytische und prognostische Kraft angesichts der Prozesse in der vergangenen DDR gleichermaßen versagt hätte. Wenn, dann müsse es symmetrische Stellenkürzungen in beiden Teilen Deutschlands geben. Die Forderung nach Einzelüberprüfungen hinsichtlich wissenschaftlicher Leistungsfähigkeit dürfte sich jedoch nach Meinung des Politologen und Gastprofessors Greven als schwierig erweisen, da die vielgepriesenen Schubladen der Ex-DDR-Gesellschaftswissenschaftler auch nach der Wende nicht gerade im Übermaß Achtung erheischende Arbeiten ausgespien hätten. Hehre Absichten könnten jedoch nicht als Kriterien gelten. Als Hauptproblem erweist sich jedoch die allgemeine Konzeptionslosigkeit in allen Fachbereichen, die beispielsweise verhindert, daß Kommunikationwissenschaftler aus der aufgelösten Sektion „Gesellschaftstheorien“ in der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät, wo durchaus Interesse an ihrer Lehrtätigkeit besteht, weiterbeschäftigt werden, da klare Vorstellungen über deren zukünftige Struktur fehlen.
Eine Folgewirkung des Rektorbeschlusses besteht darin, daß für gut ein Dutzend Aspiranten der Abschluß der Dissertationen in Frage steht. Mit der Abberufung der Marxismus/Leninismus-Professoren sind den Doktoranden die nötigen Betreuer abhanden gekommen. Die Aufforderung des Rektors, sich um neue Betreuer an anderen Sektionen zu bemühen, erscheint in diesem Zusammenhang als etwas hilflos, da gleichwertige Themenkompetenz in anderen Sektionen nur sporadisch vorhanden ist. Stefan Schwarz
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