Zusammenhalten, was zusammengehört

Hans Modrow und die PDS auf dem platten Land/ „Genosse Hans“ ermutigt die alten Genossen und hofft auf die außerparlamentarische Opposition  ■ Von Matthias Geis

Genosse Modrow legt die Stirn in Falten. Stumm blickt er über die Azaleen, die in „geschlossenen Einheiten“ die Gewächshäuser der LPG-Pflanzenproduktion Waren füllen. Früher, erklärt LPG-Leiter Peter Borchert mit einem Anflug von Resignation, war die Azalee eine „ideale Frauentagsversorgung“. Doch ob der Frauentag in der Nach- Honecker-Ära den Absatz noch garantiert, kann auch der ehemalige Regierungschef beim besten Willen nicht beantworten.

Ratlos und ein wenig bitter wirkt Modrow auch angesichts der Weihnachtssterne, die im Gewächshaus nebenan der Marktwirtschaft entgegenblühen. Modrows Resümee nach dem Rundgang, bei Kaffee und Gebäck, verspricht keine unmittelbare Besserung: „Der Kampf für die landwirtschaftliche Problematik“, soviel ist klar, „muß einen anderen Stellenwert kriegen“.

Weil prominente PDS-Besucher nicht mehr überall willkommen sind, bedankt sich Modrow bei der Belegschaft „daß ich bei euch sein durfte“. Die Bereitschaft, so Modrow vage, sei heute „nicht immer da“. Doch in Waren ist er willkommen. Denn LPG-Chef Borchert hat der Partei vorerst die Treue geschworen: „Solange der Genosse Modrow in der Partei ist, bin ich auch in der Partei.“

Genosse Hans ist eine Autorität

Borchert ist wohl nicht der einzige, der seine Mitgliedschaft an Hans Modrows Durchhaltevermögen gebunden hat. Wo immer der PDS- Spitzenkandidat auf der Landesliste Mecklenburg für die bevorstehende Wahl mobilisiert, ist ihm die tiefe Sympathie der Genossen sicher.

Kein Zweifel, „Genosse Hans“ ist eine Parteiautorität. Kein anderer genießt, vor allem unter den älteren PDSlern auf dem Land, solches Vertrauen. Ernst und konzentriert hört er ihnen zu, wenn sie von ihren Problemen mit schwarz- oder rotbunten Rindviehchern, von skrupellosen westlichen Fleischeinkäufern, von Schikanen bei den neuen Gemüsekontrollen oder den Hygieneproblemen im Schweinestall berichten.

Wer Modrow auf dem Land erlebt, beim „Rentnertreff“ in Röbeln oder bei der „Bürgersprechstunde“ in Prieborn, dem wird schlagartig die innerparteiliche Arbeitsteilung klar. Keine andere Partei muß eine derart unterschiedliche Klientel betreuen wie die PDS. Während Parteichef Gysi mit Rio Reiser durch die Republik tingelt, mit Schlagfertigkeit und flotten Sprüchen Punks, Altlinke und Yuppies mit Faible fürs Politische als potentielle Wähler umwirbt, hält Hans Modrow daheim die letzten der ehemals 2,3 Millionen Getreuen zusammen.

In Prieborn, wo sich nach und nach 16 Genossen zur „Sprechstunde“ im Gemeindekulturhaus eingefunden haben, will der ehemalige Ministerpräsident „die Fragen des Lebens, die bewegen“ behandelt wissen. — Und da ist sie schon, die Frage, die alle bewegt: „Wie wird unsere PDS überleben in dieser Zeit?“ will eine Genossin erfahren. Modrows Miene wird noch eine Spur ernster, bevor er mit einer selbstkritischen Einschätzung beginnt, die er verkündet, seit der Millionentransfer und seine Folgen den mühsam aufgepäppelten innerparteilichen Optimismus trüben: Es sei „ja bekannt, daß sich in der Partei eine falsche Haltung zum Überleben entwickelt hat“.

„Kein Raum für Geschichtsfälschung!“

Eine Partei mit 300.000 Mitgliedern jedoch, die sich anschicke, in den Bundestag einzuziehen, richtet Modrow im folgenden Satz schon wieder den Blick nach vorn, die brauche man nicht auf die Illegalität vorzubereiten. Es gelte jetzt — und da ist Genosse Hans beim eigentlichen Thema —, „die Befindlichkeit in der Partei so zu gestalten, daß wir nicht verzagen“. Modrow wird kämpferisch: „Es darf keinen Raum für Geschichtsfälschung geben!“ Einen Moment lang bleibt unklar, wie das gemeint ist. Dann die Erlösung: „Wir müssen uns frei machen von der Geschichte, die man uns anhängen will.“

„Zurück bleibt nur Erinnerung, die nie ein Wind vertrieben“, hatte die Singgruppe des Rentnertreffs Röbeln eine Stunde zuvor Hans Modrow zu Ehren zum Vortrag gebracht. Und als wollte er den wehmütigen Refrain des Mecklenburger Heimatgedichtes ins Politische übersetzen, hatte Modrow im Laufe der „freimütigen Aussprache“ sein Credo formuliert: „Vergangenheit will aufgearbeitet werden.“

Will sie? „Geschichte ist zunächst breiter gespannt“, lautet die Formel, mit der Modrow den Blick der Genossen auch auf die Jahre 1945 bis 1949 — Bodenreform! — und auf die Wende gerichtet wissen will, die sich nicht zuletzt dank seiner „Regierung der nationalen Verantwortung“ friedlich vollzogen habe. So breit spannt Modrow die Geschichte, daß am Ende zu den dazwischenliegenden vierzig Jahren — „auf die ich mit Verantwortung und Wehmut zurückblicke“ — kein konkretes Wort gesagt werden braucht.

Freilich, „Geschichte, die da ist und existiert, kann man nicht wegwischen“. Aber „manche“, so Modrow, „singen das Lied der vierzig Jahre sehr einseitig“. Da sind sie wieder, die Geschichtsfälscher.

Am Tag zuvor hat Lambsdorff auf dem Marktplatz von Waren Modrow Stasi-Verstrickungen vorgeworfen. Der Moderator des Rentnertreffs bittet den Genossen Hans um Richtigstellung. „Ich habe, auch das ist Tatsache, von der Stasi Informationen und Berichte bekommen“, bringt der ehemalige Chef der SED-Bezirksleitung Dresden Klarheit in die leidige Angelegenheit, „über die Situation im Gesundheitswesen und die Versorgungslage.“

Und dann der Nachsatz, der längst zum Verteidigungsrepertoire jedes kleinen Stasi-Mitarbeiters gehört: „Ich habe solche Informationen für die Interessen der Menschen im Bezirk Dresden genutzt, nie gegen die Menschen.“ Es kann doch nicht sein, daß die gespaltene Linke im Land, SPD, PDS, Grüne, nicht zusammenfindet und damit den Konservativen in die Hände arbeitet. „Ich war ein gefragter Gesprächspartner, als in den westlichen Medien vom ,Hoffnungsträger Modrow‘ die Rede war“, erklärt er mit einem Anflug von Ironie. „Warum auf einmal diese Abstinenz?“ Die Antwort liegt auf der Hand: „Die scheuen sich vor der eigenen Verantwortung.“

Ohnehin gibt die SPD dem ehemaligen Einheitssozialisten Rätsel auf. „Die brauchen ja gar niemanden, um Lafontaine zu demontieren“, vertraut er den Genossen an. „Statt daß sie ihn mittragen, lassen sie den Oskar für sich alleine laufen.“ Der Bundestag, das ahnt er schon, wird jedenfalls nicht „das hauptsächliche Feld der Toleranz“ gegenüber der PDS werden. Überhaupt träumt Modrow derzeit von einem zweiten Standbein. Denn „wir werden mit sozialen Spannungen leben, in denen es auch soziale Kämpfe geben wird“, die dann nicht im Parlament zum Austrag kommen. „Es wird die Form der außerparlamentarischen Arbeit geben“, weiß der Spitzengenosse, und „wir werden die sozialen Kämpfe entfalten“.

Wo immer Modrow zu den Folgeproblemen der Einheit auf dem Land nur bitter nicken kann, fordert er die Genossen am Ende auf, sich zu wehren. Das habe schließlich der Umbruch in der DDR gelehrt: Man braucht „demokratischen Mut“ und manchmal auch „demokratische Wut“. Die Röbelner Pensionäre nehmen's gelassen hin, nur einmal kommt an diesem Nachmittag die Wut hoch, angesichts der jüngsten medienpolitischen Entscheidung: „Unsere Enkelkinder wollen den Sandmann sehen. Das soll jetzt zerschlagen werden.“

Was soll bloß werden aus der „kleinen Schwester Demokratie“, fragen zwei Barden am Abend in der Kreisstadt Waren an der Müritz Hans Modrow und seine 300 Genossen im Saal. Die Wahrheit, begleitet auf der Gitarre, ist bitter. „Sie haben dich mit Coca-Cola getränkt, dir Strapse vor die Schenkel gehängt...“

Aber die Geschichte, die, wie Genosse Modrow sagt, „auch manche Last in sich birgt“, hat auch ihre guten Seiten: Hans Modrows Regierungszeit zum Beispiel, „eine Regierung, von der Historiker in zweihundert Jahren vielleicht einmal sagen werden: Dies war die stolzeste Zeit der Deutschen, in der sie bewiesen haben, daß sie ohne Führer leben können“, wie der Begrüßungsredner der großen Warener Abschlußveranstaltung zu berichten weiß. — „Halt durch!“ geben die Genossen ihrem Hans Modrow mit auf den Heimweg.