Mikadostäbchen, Wollstrümpfe

Marie, Anna und die „verdammt blöde, komplizierte Welt der Erwachsenen“  ■ Von Heike Brandt

Es soll BuchhändlerInnen geben, die dieses Buch mit eher spitzen Fingern anfassen und so was Ekliges denn nun doch nicht ins Regal stellen wollen. Gemeint ist Pischmarie, ein Buch, das mit einem der letzten Tabus in der Kinderliteratur bricht: Dagmar Chidolue erzählt von einem Mädchen, das ins Bett und in die Hosen macht, und das wird im Buch unverblümt haut- und geruchsnah beschrieben.

Es könnte einen schütteln. Aber weniger wegen der stinkenden, feuchten und klebrigen Details, der vielen Malheurs und Katastrophen, die dem zehnjährigen Mädchen immer wieder passieren, sondern weil die trostlose häusliche Atmosphäre ihr keine andere Ausdrucksmöglichkeit zu lassen scheint: Immer wenn Marie zum Platzen gefüllt ist, dann drängt „es“ aus ihr heraus.

Marie lebt mit ihrem Vater zusammen, beide sind sich fern und fremd. Für sie hat er Steine im Gesicht, lebhaft wird er nur, wenn etwas schiefgegangen ist. Und dann donnert sein Zorn über sie. Vor Jahren, als Marie klein war, hatte er bei Glatteis einen Autounfall, Maries Mutter starb dabei. Er findet keinen Weg, mit seinen Gefühlen umzugehen, hängt durch, ist unleidlich, Jahre schon. Marie hat das Gefühl, sie alle seien wie „Mikadostäbchen von einer unsichtbaren Hand gerüttelt und geschüttelt — weit entfernt, aber irgendwie gehören sie doch zusammen“. Doch sagen kann sie nichts, „sie hatte schon immer wenig Wörter zur Verfügung gehabt. Die Wörter steckten in ihrem Kopf zuhauf. Marie hatte aber keine Lust, mit ihnen umzugehen“. Und dann sitzt sie am Tisch und denkt sich fort, und das Malheur passiert immer wieder.

Das einzig Heile in Maries Welt ist Tata, die Großmutter, die das Essen und die Wäsche besorgt. Der Großvater kommt nie, er hat den Tod der Tochter nicht verwunden, will auch Marie nicht sehen, sie erinnert ihn zu sehr an die Mutter. Und dann kommt Clara ins Haus. Eines Tages erklärt der Vater, sie hätten geheiratet, und Clara sei nun Maries neue Mutter. Basta. Marie will Clara nicht, sie haßt sie, läßt sie nicht an sich heran. Das Verständnis, das Clara für Maries „Katastrophen“ zeigt, stößt Marie nur noch stärker ab. Und der Vater wird nur strenger. So daß Marie schließlich auch einkackt.

Konsequent aus der Sicht des Kindes schildert die Autorin, wie es sich Schritt für Schritt nahezu zwangsläufig immer weiter isoliert. Aber dabei bleibt es nicht. Die Mikadostäbchen rutschen aufeinander zu. Jedes bewegt sich ein Stück. Clara wird sterbenskrank, Marie kümmert sich, holt den Vater. Den schüttelt die Angst, das kann Marie sehen. Das verändert ihn. Marie übersteht eine Kraftprobe mit ihm, und dabei schaffen sie es, ein richtiges Gespräch zu führen. Der Großvater, ein kauziger Muffkopf, mit dem Tata es auch nicht leicht hat, läßt sich langsam auf Marie ein, dann vorbehaltlos. Clara redet über ihr Geheimnis, ihre beiden Kinder, die sie bei ihrem geschiedenen Mann gelassen hat. Und sie überzeugt Marie, wegen der „Katastrophen“ zu einer Ärztin zu gehen. Zwar löst sich am Ende nicht alles in Wohlgefallen auf, aber das Eis ist ein wenig gebrochen, eine Zukunft ist absehbar. Aus der Pischmarie wird die Zopfmarie.

In Dagmar Chidolues Kinderroman geht es nicht nur um das Problem der zehnjährigen Marie, sondern gleichermaßen um die „verdammt blöde, komplizierte Welt der Erwachsenen“. Auch die sind oft genug nicht in der Lage, mit ihren Gefühlen und Problemen umzugehen, was sie dann auf ihre Art „ausdrücken“ — letztlich genau so stinkig wie die „Malheurs“ der kleinen Marie. Und erst die Aufhebung der Sprachlosigkeit, die Mauern in den Gehirnen und zwischen den Menschen schafft, läßt Nähe und Verständnis entstehen. Das vermittelt Dagmar Chidolue zum einen sehr glaubwürdig durch den Verlauf ihrer Geschichte, zum anderen aber auch durch die Art und Weise, durch die bildhafte Sprache, mit der die Gefühle der Marie ausgedrückt werden und mit der Marie die Erwachsenen scharf und schonungslos beobachtet. Ein Buch nicht nur für Kinder.

Das gilt auch für Rote Kirschen von Inge Meyer-Dietrich (Anrich Verlag 1990, 19,80 DM). Gleich auf den ersten Seiten war ich selber wieder Kind, als Annas Freund Klaus in einem todesmutigen Akt die kratzigen langen Wollstrümpfe und das dazugehörige Leibchen im Küchenherd verbrennt. (Übrigens vergeblich: Nach einer gehörigen Tracht Prügel kauft die Mutter gnadenlos eine neue Ausstattung dieser gräßliche Klamotten.) Inge Meyer-Dietrichs Kinderroman spielt Anfang der fünfziger Jahre, als der Krieg und die Erinnerung daran noch ganz nahe sind, Menschen mit Narben und Macken herumlaufen, die Kinder in Ruinen spielen, jedenfalls immer draußen und miteinander — Autos, Fernsehen, Computer stören noch nicht. Doch Inge Meyer-Dietrich zeichnet beileibe keine heile Welt, von Nostalgie ist nicht die Rede. Eine andere Zeit eben, meisterhaft von der Autorin eingefangen, der man anmerkt, daß sie sich erinnert an die eigene Kindheit. Sie kann Kindern Geschichten erzählen, wie die Mutter von der zehnjährigen Anna in ihrem Buch, mit sparsamen Worten, die aber um so genauer Gesichter, Gefühle, Situationen darstellen, die einen auch zum Weinen bringen können. Denn es ist eine traurige Geschichte, die hier erzählt wird.

Und doch wieder nicht. Annas Mutter ist krank, hat Krebs, was Anna nicht weiß. Sie muß eine Weile zu einer ungeliebten Tante, weil der Vater sie nicht allein versorgen kann. Solange das nur vorübergehend ist, erträgt Anna es einigermaßen tapfer. Als aber dann für das Kind völlig überraschend die Mutter stirbt, kapselt sich Anna ab, traurig, aber auch zornig, weil sie so hintergangen wurde. Wenn sie Kinder hat, nimmt sie sich vor, wird sie ihnen immer die Wahrheit sagen.

Anna hat Angst, hat so viele unbeantwortete Fragen, und sie ist so viel allein. In ein dickes blaues Heft schreibt sie alles auf. Das hilft. Und dann ist da noch Elisabeth, die neue Freundin des Vaters; Anna mag sie. Aber darf sie denn das? Verrät sie die Mama dadurch nicht? Mit Elisabeth kann Anna reden, „die eine Liebe nimmt der anderen nichts weg“, sagt die. Damit kann Anna leben.

Dagmar Chidolue: Pischmarie , Roman für Kinder, Dressler Verlag 1990, 14,80 DM; Inge Meyer- Dietrich: Rote Kirschen , Anrich Verlag 1990, 19,80 DM