Der mündige Anaboliker

■ Doping in den damals noch nicht neuen Bundesländern PRESS-SCHLAG

Von den Hitler-Tagebüchern wollen wir ja gar nicht erst anfangen, also nehmen wir mal an, die Dokumente, mit denen der 'Stern‘ organisiertes Doping im DDR-Sport nachweist, sind echt. Sie belegen, was ohnehin jeder wußte: In der DDR wurden flächendeckend Anabolika verabreicht, und zwar im Gegensatz zu westlichen Ländern wie der BRD, wo Athletinnen und Athleten individuell und unkoordiniert vor sich hindopten, systematisch und von der Sportführung sorgfältig geplant. Also genau so, wie es sich etliche Sportmediziner hierzulande immer erträumt hatten. Kein Wunder, daß diese nach den Wandlungen in Honeckers Arbeiter-, Bauern- und Medaillenstaat „wie die Geier“ ('Stern‘) über die östlichen Kollegen herfielen, um ihnen ihr kostbares Know-how zu entlocken.

Das bislang veröffentlichte Material belastet Spitzenkräfte wie Kristin Otto, Heike Drechsler, Torsten Voss, Christian Schenk, Jürgen Schult, Ulf Timmermann. Obwohl nicht in jedem Fall nachgewiesen wird, daß die entsprechenden Dopingfahrpläne auch eingehalten wurden, ist schwer zu glauben, daß ausgerechnet die Topleute auf die Einnahme leistungssteigernder Mittel verzichtet haben sollen. Diese streiten die Vorwürfe allerdings rigoros ab, bleiben in ihrer Argumentation jedoch verdächtig unpräzise. Sie hätten nichts Verbotenes getan, punctum!

Die Betreuung durch das dichte Ärztesystem im DDR-Sport bewegte sich in der Grauzone zwischen der — erlaubten — Zufuhr von Vitaminen und Mineralien und der — verbotenen — Einnahme von Hormonen und Anabolika, die die im Training verbrauchten Substanzen ersetzen sollten; die auch von Westdoktoren wie dem Spritzenmaniak Liesen umschwärmte Substitution also. Diese sei völlig unschädlich, behaupten die einen, während andere Experten vor hormonellen Fehlentwicklungen, Persönlichkeitsveränderungen und Spätschäden warnen.

Oral-Turinabol, das Dopingmittel der DDR, stand allerdings definitiv auf der schwarzen Liste des IOC. Dr. Manfred Höppner, einer der Hauptverantwortlichen für das Programm, gleichzeitig vollmundiger Antidopingpropagandist im IOC, räumt zwar eine gewisse „Heuchelei“ seinerseits ein, läßt jedoch ansonsten jegliches Schuldbewußtsein vermissen. In der DDR, so bemerkt er schlitzohrig, habe es kein Gesetz gegeben, das die Einnahme dieses Anabolikums untersagte.

Die Enthüllungen sind natürlich Wasser auf die Mühlen der ehemaligen BRD-Funktionäre. Schon bei den gesamtdeutschen Schwimmeisterschaften war die Häme groß, als die früher unbesiegbaren Ostschwimmerinnen meist hinterherplanschten. „Kaum nimmt man ihnen die bunten Pillen weg, schon verlieren sie, wir hatten also doch schon immer die besseren Leute“, so der allgemeine Tenor, bei dem allerdings ganz nonchalant vergessen wurde, vor der eigenen Tür zu kehren. Bei den großen Wettkämpfen waren schließlich alle gleich, egal, ob sie sich ihre Muskeln nun organisiert oder im stillen Kämmerlein angezüchtet hatten. Gelackmeiert waren lediglich die, denen ihre Gesundheit mehr wert war als sportlicher Erfolg.

In Zukunft könnten sie leicht noch massiver im Regen stehen, nämlich wenn sich jene Leute aus Ost und West durchsetzen, deren Konsequenz aus der ganzen Affäre die Forderung nach der Freigabe von Anabolika ist. Das Geld, das derzeit für Dopingkontrollen ausgegeben wird, sollte man doch lieber in die Krebsforschung stecken, fordert Dr. Manfred Höppner nicht ohne Perfidie und kramt scheinheilig die beliebte Mär vom „mündigen Athleten“ hervor, der selbst wissen müsse, „was er seinem Körper antut“. Dabei weiß Höppner am allerbesten, daß Leistungssport keineswegs beim mündigen Athleten beginnt, sondern bei 14- bis 16jährigen Jugendlichen, die in der Regel vor der Wahl stehen, ob sie das üble Spiel mitmachen, um groß rauszukommen, oder lieber sauber bleiben und fortan Däumchen drehen. Matti