Der Triumph des Verlierers

■ Ein schlapper Schicksalswahlkampf und das Ende des Jahres der Exekutive ESSAY

Wieviel Überraschung, wie viele Prozentpunkte jene Wende bringen wird, die Lafontaine und die Seinen seit vierzehn Tagen beschwören, das bleibt dem Wahlabend vorbehalten. Nach einem Wahlkampf, der eigentlich mangels Inhalt längst schon hätte abgebrochen werden müssen, gibt es nun dennoch ein Spannungsmoment. Tatsächlich hat sich in den letzten Tagen etwas verändert: Kohl, der prädestinierte Sieger, der die Muse der Geschichte zur Kanzleramtsangestellten machte, scheint nun als Schwadroneuer seines Erfolges zu enden. Während der abgestempelte Verlierer Lafontaine seine Wahlkampagne als Triumphzug beendet. Unerwartete Irritation also am Ende dieses schlappen Schicksalswahlkampfes, am Ende dieser gähnenden Epochenentscheidung. Dieser Wahlkampf hat die Gegensätze, die Bildkontraste, die Sprachformeln bis zur Banalität vereindeutigt: jugendlicher Held versus Übervater, Moderne versus Geschichte, rote Sonne versus Schwarzrotgold — absolute Gegensätze, die so spannungsarm sind wie die gestrige 'Bild‘-Schlagzeile zur heutigen. Aber die selbstverschuldete Banalisierung zeigt am Ende, daß die bundesdeutschen Parteien ihr semantisches Monopol ausgezehrt haben und sich die Verhältnisse wenden. Selbst die CDU, die zum Kanzlerwahlverein regredierte, wird nach ihrem Erfolg am 2.Dezember in unbeherrschbaren Widersprüchen aufwachen. Die Übergangsmomente, der Übergang zwischen Erfolg und Niederlage, das ist das eigentlich Spannende am Wahlkampf 1990.

Gleichwohl, jene Wende hätte den Wahlkampf nie grundsätzlich gewendet, auch wenn es noch einen Monat mehr gegeben hätte. Die Wende beginnt nach der Wahl — die Wahl selbst ist noch das letzte politische Ereignis des Jahres der Exekutive. Die Kohlsche Tempokratie geht damit zu Ende. Wählen ist immer auch ein Versuch, sich auf die Seite des Erfolges zu stellen. Kohl stand für Erfolg, fürs Gelingen, während Lafontaine mit den Thema „Kosten der Einheit“ für die Partei der selbstsüchtigen Verlierer der Einheit, für die Seite der Probleme stand. Als Rechnungsprüfer der Nation lag er zudem quer zum Ruf der SPD als der Partei der sozialstaatlichen Verteilung. Kohl, der große Subventionist der Einheit, wiederum konnte sich auf die Fama der CDU stützen, Partei der Austerität zu sein.

Was Kohls Vorteil war, war Lafontaines Nachteil: der einheitliche Wahlkampf im geteilten Land, der Bundeswahlkampf im Osten. Lafontaine vertrat eben auch eine Gesellschaft, die für die Aufhebung der Teilung nicht teilen will. Da überzeugt eben dann doch der reiche Onkel Kohl. Er traf die Hoffnung der sehnsuchtsvollen Bundesdeutschen, die sich um vierzig Jahre verspätet haben. Lafontaine hatte zudem kein Ohr für die Stummheit der Demoralisierung im Osten. Die Menschen in der Ex-DDR haben nicht nur ihre soziale Sicherheit, sondern auch ihre Identität verloren. Er hatte keinen Sinn für die Millionen Existenzen, die nicht nur ihre Arbeit verlieren, sondern deren Lebensgeschichte auch im dunklen Loch der Stasi-Vergangenheit verschwand. Die sich selbst nicht mehr trauen und sich nichts zutrauen. Ein erfolgreicher Wahlkampf muß auch etwas ausdrücken, muß das zur Sprache bringen, wofür unter Umständen der Wähler keine Sprache hat. Die paternalistische Suada Kohls, der die Deutschen zweiter Klasse als verlorene Söhne ans Herz drückte, mußte da Erfolg haben. Das Erfolgsgeheimnis dieses Wahlkampfes war: Er mußte im Osten gewonnen werden. Lafontaine, der mit seinem intransigenten Glaubwürdigkeitsanspruch im Osten nicht anders reden wollte als im Westen, brachte eben im Osten nichts zur Sprache. Wer hatte ihm bloß gesagt, daß Glaubwürdigkeit heißen muß, im Osten genau dasselbe zu sagen wie im Westen?

Und ein historischer Fehler war es wohl auch, dem Kohlschen Einheitsgewaber abstrakt die soziale Gerechtigkeit, den ordentlichen Haushalt und die Menschlichkeit entgegenzusetzen. Lafontaine nahm im Grunde widerstandslos Kohls Idee von Einheit als einer Idee der Nation auf, indem er den linken Antinationalismus entgegensetzte. Aber dieses Entweder-Oder war entschieden nicht die historische Alternative. Im Gegenteil: Es fehlt auf das bitterste eine versöhnende Idee der Einheit, in einem getrennten Land mit pathologischsten Formen der Entfremdung, mit allen Tendenzen zum Inländer-Rassismus. Es geht keineswegs darum, als bundesdeutscher Linker nett zu den Opfern des bundesdeutschen Kolonialismus in der Ex-DDR zu sein. Es geht darum, das aufzunehmen, was die ehemaligen DDRler davon enthebt, Opfer zu sein, Opfer des Realsozialismus, Opfer der Marktwirtschaft: Das sind die Ideen und Hoffnungen des Herbstes 1989, der Anspruch auf Demokratie jetzt, einer Demokratisierung der Gesellschaft, die die alten Links-Rechts-Schemata transzendiert. Lafontaine hat nichts getan, sich diese Ideen anzueignen, sie zur gesamtdeutschen Politik zu machen. Vielleicht ist das gut so: Die Ideen der demokratischen Revolution konnten in diesem Wahlkampf nicht verkauft werden. Sie blieben bei den Akteuren des Herbstes. Es wird sich erst noch zeigen — und das wäre die zweite spannende Frage des 2.Dezember — was sie den Leuten „hüben und drüben“ wert sind.

Lafontaines Auftritt bezeichnet auch einen Endpunkt jener linken (westdeutschen) Geschichte, für die Nicaragua näher lag als die östliche Bürgerrechtsbewegung, für die die Solidarität mit der Dritten Welt mehr sagte als der handelnde Akademiker aus Warschau. Lafontaine ist Exponent und Opfer einer saturierten westdeutschen Linken, die im Herbst 1989 aus ihrer ökologischen Modernität, aus ihrer rot-grünen Zukunft von der Realgeschichte aufgestört wurde und das beträchtlich übel nimmt. Diese Vision einer Zivilgesellschaft entsprang aber einer zivilisatorischen Höhe, einem unvergleichlichen öffentlichen Reichtum, der mit der östlichen Armut nun der Vergangenheit angehört. Schwer genug, davon Abschied zu nehmen. So gesehen, hat Lafontaine extrem hochgeschraubten Ansprüchen der Geschichte gegenüber versagt — gemessen an der bundesdeutschen Parteienlandschaft ist er aber zweifelsfrei primus inter pares. Wenn jetzt Teile der SPD sich darauf vorbereiten, den Kandidaten nach dem 2. Dezember ins Leere fallen zu lassen, wenn selbst einige Enkel von Willy sich vorsichtig distanzieren, und die sozialdemokratischen Linken sich mit einwandsimmunen Spezialthemen wie Homosexualität, Ausländerintegration oder Frauenfragen zu salvieren versuchen, dann ist das ein Zeichen für den inneren Zerfall der Volkspartei. Gegenüber dem Tempokraten Kohl war die gesamte Partei nicht auf der Höhe der Zeit. Man stelle sich nur die Kandidaten Rau oder Vogel vor. Sie hätten einen Wahlkampf der Nachtrabpolitik betrieben, hätten sich als die bessere Exekutive dargestellt, hätten die Ostpolitik als die wahre Geburt der Einheit beschworen.

Lafontaines historisches Verdienst ist es, überhaupt eine politische Alternative zur deutschen Einheit — angesichts des Einheitskonsens-Drucks — formuliert zu haben. Lafontaine hat den für die Sozialdemokratie ungewöhnlichen Mut besessen, auf einen Stammwählerwahlkampf zu verzichten. Er hat einen Wahlkampf des Generationswechsels gemacht. Damit ist er vielleicht nicht auf der Höhe des Augenblicks, wohl aber auf der Höhe der Zeit, die kommen wird, nach dem 2.Dezember. Er ist zum Populisten der Nüchternheit, zum Pathetiker des Antinationalen, zum Animator des besseren Arguments, zum Charismatiker des anderen Deutschland geworden — wann hat es das je in diesem Lande gegeben! Sollte Lafontaine an die 35-Prozent-Grenze kommen oder sie überschreiten, so hätten das mehr Gewicht als hypothetische 38 Prozent eines anderen SPD-Kandidaten. Es wäre ein Plebiszit für den Generationswechsel. Lafontaine wäre es gelungen, die Kräfte für eine gesellschaftsverändernde Arbeit zusammenzubringen, um aus dem geeinten Deutschland eine menschliche Gesellschaft zu machen.

Wer nach dem 2.Dezember „Guten Morgen Deutschland“ sagt, hat verschlafen. Während Kohl die Punkte zählt, hat Lafontaine die Karten für das neue Spiel ausgeteilt. Klaus Hartung