„Die Kontrolle bei der Verteilung von Hilfsgütern wird ein großes Problem“

■ Es gibt in der Sowjetunion kaum gesellschaftliche Organisationen, die Willens und in der Lage wären, tatsächlich für eine gerechte Verteilung zu sorgen INTERVIEW

Igor Charitschow, 43, leitet seit dem Herbst hauptberuflich die gesellschaftlich-politische Abteilung des „Russischen Fonds für gesellschaftliche Wohltätigkeit und Unterstützung“. Der ehemalige Physiker hat nicht zufällig sein Büro im Moskauer Stadtsowjet, denn der Fonds arbeitet, hauptsächlich aufgrund persönlicher Vernetzungen, eng mit der Moskauer Stadtregierung und der Regierung der Russischen Föderation zusammen.

taz: Ist es wirklich realistisch, in Rußland heute von „Hunger“ zu sprechen? Könnte die Hilfe aus der Bundesrepublik nicht auch als ungebetene, herablassende Geste des ehemaligen Kriegsverlierers aufgefaßt werden?

Charitschow: Die meisten Einwohner unseres Landes hoffen nicht mehr auf eine Verbesserung der wirtschaftlichen Lage in den nächsten ein- bis eineinhalb Jahren, sondern erwarten im Gegenteil eine Verschlimmerung. Diese Befürchtungen hegen, meinen Beobachtungen zufolge, Menschen aller sozialen Kreise, vom Arbeiter bis zum Professor. Natürlich kann von Hunger, in dem Sinne, daß die Leute mit leeren Mägen dasitzen, noch nicht die Rede sein, aber von einer Fehl- und Mangelernährung können wir heute schon sprechen. Und gerade die rapide Verringerung der Milchprodukte in den Moskauer Läden in letzter Zeit ist ein weiterer Schritt in diese Richtung. In dieser Situation nehmen die Leute bei uns die Fernseh- und Zeitungsnachrichten über die in westlichen Ländern geplanten Hilfsaktionen mit Wärme und Dankbarkeit auf. Es ist wohl niemand bei uns noch so paranoid, zu glauben, daß Lebensmittellieferungen aus der Bundesrepublik auf einen heimtückischen taktischen Schachzug der Deutschen hindeuteten. Groß und klein erblickt hierin nur das, was es ist: nämlich den ehrlichen Wunsch, zu helfen.

Wer braucht am meisten Hilfe?

Am stärksten betroffen sind alte kinderlose Menschen, Alleinstehende ebenso wie Ehepaare — nicht nur wegen der oft unglaublich niedrigen Renten, sondern auch weil bei uns heute zum Einkauf von Lebensmitteln einfach eine körperliche Kraft und Ausdauer notwendig ist, wie sie die Alten nicht mehr aufbringen können. Die zweite Kategorie stellen dann Leute, die aus irgendeinem Grunde nicht berufstätig und hospitalisiert sind: zum Beispiel Waisen oder die Bewohner von Altenheimen. Aber hier taucht auch schon das Problem der Verteilung auf. Denn es ist ein offenes Geheimnis, daß bei uns die PflegerInnen in solchen Einrichtungen ihre „Zöglinge“ ebenso beklauen, wie sie sie betreuen. Obstkonserven oder Nährmittelkonzentrate, die an solche Häuser geliefert wurden, haben auch in der Vergangenheit die Adressaten oft nicht erreicht.

Und dies könnte sich bei den deutschen Hilfsgütern im größeren Maßstab wiederholen?

Wenn ein Defizit besteht, haben davon immer die Leute einen Vorteil, die selbst nichts produzieren, sondern das wenige Produzierte verteilen, also mit anderen Worten: die Apparatschiki und die Handelsmafia. Schon jetzt wird ja das Wenige, was wir noch haben, schrecklich ungleich verteilt. Und bei einzelnen Kontrollen in Moskauer Geschäften mit leeren Ladentischen ist es immer wieder vorgekommen, daß sich in den Wirtschaftsgebäuden große Lagerbestände wertvoller Dauerwaren, wie zum Beispiel Fisch- und Kaviardosen, befanden. Die Furcht, daß die Hilfe die wirklich Bedürftigen nicht erreicht, ist leider begründet. Es sollte sich nicht wiederholen, was nach dem Erdbeben in Armenien geschah, wo sich die westliche Öffentlichkeit einfach nicht vorstellen konnte, daß in einer solchen Situation Hilfsflugzeuge von Marodeuren entladen werden. Und wo man dann naiv staunte, als viele Hilfsgüter wenig später auf dem Schwarzmarkt auftauchten. Deshalb messe ich diesmal der Kontrolle durch gesellschaftliche Organisationen einen zentralen Stellenwert zu. Mit ihr steht und fällt diese Hilfe.

Gibt es denn Organisationen, die eine solche Kontrolle durchführen könnten?

Leider haben die Organisationen, die sich bisher bei uns mit der Verteilung befaßten, erstarrte Strukturen. Da ist zum Beispiel die „Gesellschaft der Invaliden“ beim Ministerrat der RSFSR, die ihre Aufgabe so aufgefaßt hat, daß man in einigen Bezirken geradezu von einer Machtergreifung durch die „Invaliden“ sprechen kann. Bei einer solchen Verteilerorganisation kann man getrost davon ausgehen, daß alles hübsch „in der Familie“ bleibt. Schon eher einspannen könnte man für diese Aufgabe vielleicht die Komissionen bei den Bezirksräten, die bisher Kleidungstalons und ähnliches an kinderreiche Familien verteilten - die sind aber sehr kümmerlich ausgestattet. Natürlich ist dies auch einer der traditionellen Aufgabenbereiche der Kirche, aber diese ist bei uns nicht mehr besonders eng mit anderen gesellschaftlichen Strukturen verflochten. Und von den neueren Organisationen könnte ich schließlich das dem Staat nahestehende „Sowjetische Komitee zur Verteidigung des Friedens“ nennen, gegen das sich aber in manchen Kreisen der Bevölkerung der Verdacht richtet, daß es den Frieden nicht immer zugunsten der Demokratie verteidigt. Doch ohne Zweifel wäre es das sinnvollste, wenn alle die neuen gesellschaftlichen Organisationen und Parteien — ohne allzugroße Mäkeligkeit gegeneinander — einen gemeinschaftlichen Fonds bildeten, um die praktische Seite dieser Hilfe zu organisieren. Dazu brauchen wir ein Heer freiwilliger Kontrolleure aus der Bevölkerung. Selbstverständlich sind auch Spezialisten aus dem Westen mit einschlägigen Erfahrungen willkommen. Die Aufgabe ist nicht leicht. Interview: Barbara Kerneck, Moskau