Honecker — Angeklagter im Wartestand

■ Nach dem überraschenden Haftbefehl gegen Honecker ist seine Auslieferung an die Justiz noch ungewiß/ Entscheidet Gorbatschow über den „zu spät gekommenen“ Genossen Erich?

Berlin (dpa/taz) — Vor dem sowjetischen Militärhospital Beelitz warteten gestern die Fernsehteams vergebens. Doch nach wie vor ist die Entscheidung, ob der ehemalige DDR-Staatsratsvorsitzende und Parteichef Erich Honecker an die Berliner Justiz überstellt wird, nicht gefallen. Diese Frage werde „auf ganz hoher Ebene entschieden“, hieß es gestern aus Kreisen der sowjetischen Botschaft. Die Entscheidung werde voraussichtlich erst Anfang der Woche nach Rücksprache mit Präsident Gorbatschow getroffen.

Honecker und seine Ehefrau Margot befinden sich seit einigen Monaten in Beelitz in der Obhut sowjetischer Militärs. Berlins Regierender Bürgermeister Momper wetterte in diesem Zusammenhang, die UdSSR könne keinen deutschen Staatsbürger mehr der Strafverfolgung entziehen. Die sowjetische Armee sei schließlich nicht mehr Oberherr im Lande. Das Berliner Amtsgericht hatte am Freitag überraschend einen Haftbefehl gegen den 78jährigen Honecker wegen des Verdachts des gemeinschaftlichen Totschlags im Zusammenhang mit dem Schießbefehl an der innerdeutschen Grenze erlassen. Nachdem es noch Mitte der Woche aus Justizkreisen geheißen hatte, schriftliche Befehle über die Anordnung des Schießbefehls seien aus den entsprechenden Akten entfernt worden, wartete die Berliner Staatsanwaltschaft pünktlich zu den Wahlen mit einem neuen Dokument auf. In „unermüdlicher Arbeit“, so Berlins Justizsenatorin Jutta Limbach, habe die Staatsanwaltschaft im ehemaligen Militärarchiv Straußberg Protokolle des Nationalen Verteidigungsrates aufgespürt, die Honecker nun auch persönlich belasten. So wird ihm vorgeworfen, als Sekretär des Nationalen Verteidigungsrates 1961 den Schußwaffengebrauch angeordnet zu haben. In einem Protokoll des Nationalen Verteidigungsrats wird Honecker darüber hinaus 1974 mit den Worten zitiert: „Nach wie vor muß bei Grenzdurchbruchsversuchen von der Waffe rücksichtslos Gebrauch gemacht werden, und es sind die Genossen, die die Schußwaffe erfolgreich angewandt haben, zu belobigen.“

Nach Ausstellung des Haftbefehls, den eine Springer-Zeitung schon vorab hinausposaunt hatte, waren Berliner Polizeibeamte vor Erich Honeckers Domizil in Beelitz erschienen. Da man ohne Absprache mit den sowjetischen Dienststellen nicht tätig werden wollte, zogen die Beamten am Samstag wieder ab. Nach dem Willen der Berliner Justiz soll Erich Honecker zunächst in die Berliner Untersuchungshaftanstalt Moabit gebracht werden, wo bereits zwei weitere prominente Genossen Honeckers sitzen: der ehemalige FDGB-Chef Harry Tisch und der Ex-Stasi-Chef Erich Miehlke. Ob Honecker überhaupt haftfähig ist und ein Verfahren gegen ihn eröffnet wird, ist nach wie vor äußerst fraglich. Der Gesundheitszustand ihres Mandanten, so erklärten gestern die Westberliner Anwälte Honeckers nach einem Besuch in Beelitz, habe sich nicht verbessert, sondern eher verschlechtert. Er habe die Nachricht von seiner geplanten Inhaftierung „sehr gefaßt“ aufgenommen, teilten die Anwälte mit, die Beschwerde gegen den Haftbefehl einlegen wollen.

Die Rechtmäßigkeit des Schießbefehls, auf dessen Grundlage seit 1961 190 Menschen getötet worden sind, soll nach DDR-Recht geprüft werden. Honeckers Rechtsanwälte betonten, die moralisch-politische Schuld dürfe dabei nicht mit der strafrechtlichen Verantwortung vermischt werden. Ve.