Das Fiasko schockt die Grünen

Hochrechnung von 21 Uhr: Grüne West scheitern an der Fünfprozentklausel/ Flügel der Partei beginnen mit gegenseitigen Schuldzuweisungen  ■ Aus Bonn Gerd Nowakowski

Das Entsetzen war flügelübergreifend, als die ersten Hochrechnungen die Grünen West unterhalb der Fünfprozenthürde zeigten. Zwar hatten prominente Grünen ihre Erwartungen bemerkenswert niedrig gehängt, doch mit diesem Fiasko hatte niemand gerechnet. Selbst der Radikalökologe Manfred Zieran, der zur Wahl der PDS aufgerufen hatte, gestand, ein mögliches parlamentarische Ende der Grünen schocke ihn. Einem Teil der grünen Funktionäre wie dem Bundesgeschäftsführer Eberhard Walde verschlug das niederschmetternde Ergebnis nahezu die Sprache. Seine seit Wochen geäußerte Befürchtung, der formal nicht vollzogene Zusammenschluß mit den DDR-Grünen/Bündnis 90 könnte sich als Fehler erweisen, wurde auf fatale Weise bestätigt. Bleiben die Grünen West — wie zu Redaktionsschluß noch nicht entschieden — unterhalb der Fünfprozenthürde, dann gehen sämtliche Stimmen in der alten Bundesrepublik verloren und ziehen nur die DDR-Vertreter ins Parlament ein.

Nach der ersten Sprachlosigkeit unter den Funktionsträgern der Grünen, die zu einer großen Wahlparty in der Bonner Bisquit-Halle eingeladen hatten, ließen die gegenseitigen Schuldzuweisungen nicht auf sich warten. Ein erneutes Aufflackern der Strömungsstreitigkeiten deutete sich bereits ab. Die Radikalökologin Jutta Ditfurth, als Bundestagskandidatin in Bayern gescheitert, machte für die Niederlage die Aufgabe eines „scharfen linken und ökologischen Profils“ verantwortlich. Realpolitische Kräfte sehen es dagegen umgekehrt: Die Partei habe zu sehr auf das PDS-Wählerpotential geschielt, vertrat Maria Heider, Mitglied des Bundesvorstands. Der hessische Realpolitker Hubert Kleinert, der bereits vor Wochen vor einer drohenden Niederlage gewarnt hatte, sah in dem miserablen Abschneiden die Quittung für eine jahrelange Vernachlässigung der Selbstdarstellung der Partei. Darin war sich Kleinert mit Christian Ströbele, Sprecher des Bundesvorstands, einig. Der Parteilinke, der persönliche Konsequenzen für den Bundesvorstand nicht ausschloß, hält eine Umstrukturierung der Partei für unumgänglich: Einige „liebgewonnene Prinzipien“ seien „überholt“. Notwendig sei beispielsweise eine stärkere Darstellung von politischen Positionen durch Personen und eine Umgestaltung der basisorientierten Entscheidungsstrukturen. Seine Sprecherkollegin Heide Rühle sprach von „Ermüdungserscheinungen“ in der Partei. Die Beendigung der internen Streitigkeiten durch die Neubesetzung des Vorstands vor wenigen Monaten habe sich nicht mehr ausgewirkt. Außerdem hätten die langwierigen Bündnisverhandlungen mit den DDR-Partnern Kräfte gebunden, die für politische Initiativen gefehlt hätten. Frau Rühle kritisierte indirekt den Wahlkampf, der in bewußter Abgrenzung zu anderen Parteien die drohende Klimakatastrophe in den Mittelpunkt rückte. Doch damit waren die Grünen gegenüber der allgegenwärtigen Vereinigungsproblematik nicht durchgedrungen. Auch die staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen wegen des Fahnenfluchtaufrufs der Grünen im Zusammenhang mit dem Golfkonflikt und der Bruch der rot-grünen Koalition in Berlin brachten der Partei offenbar nicht den erwarteten Aufschwung.

Das Dekor der Betriebsgaststätte am Ostberliner Alexanderplatz, wo das Bündnis 90/Grüne seine Wahlparty feierte, war ausgesprochen optimistisch. Bunte Wahlplakate („Mehr Farben braucht das Land“) und Luftballons, Sekt en masse und ein langer Tisch mit Bananen, Ananas und Zitrusfrüchten sorgten für die Einstimmung der zahlreich erschienenen Gäste. Wetten wurden entgegengenommen, alle bekamen gleich am Eingang einen Zettel in die Hand gedrückt, auf dem man seine persönliche Prognose ankreuzen konnte.

Und dann kam sie, die erste Prognose. „Stopp!“ hieß es im Raum, als die Kugel, die die Gewinne der CDU auf dem Schaubild markierte, stetig nach rechts und damit nach oben rutschte. „Wir trinken lieber jetzt was, später haben wir vielleicht keinen Grund mehr“, kommentierte eine Mitarbeiterin der ehemaligen Volkskammerfraktion in der Schlange vor der Sektbar die ersten Zahlen. Aber die gute Laune und der Optimismus waren nicht so leicht zu bremsen. „Wer glaubt schon Prognosen?“ oder: „Schlimmer als die Ergebnisse der Volkskammerwahl kann es auch nicht mehr werden!“ hieß es an den überfüllten Tischen, wenngleich auch gedämpfte Äußerungen wie: „Sieht ja nicht so gut aus“, fielen.

In der Tat: Trotz der zu dieser Stunde vorherrschenden Unsicherheit, ob die Grünen West den Sprung in den Bundestag schaffen — im Vergleich zur Volkskammerwahl konnte die Listenvereinigung immerhin leicht zulegen, hatte das Bündnis doch damals lediglich 2,91 Prozent der Stimmen und die Grünen, die gemeinsam mit dem Unabhängigen Frauenverband angetreten waren, ganze 1,97 Prozent erhalten. „Ich bin nicht enttäuscht“, meinte denn auch Vera Wollenberger von den Grünen Ost und Spitzenkandidatin in Thüringen. „Ich hatte nie etwas anderes erwartet. Wir haben gewonnen, wenn wir mehr als fünf Prozent erhalten.“ Fünf Prozent, das bedeutet neun Sitze im neuen Bundestag, und von dieser Größenordnung waren die Bürgerbewegungen auch bei ihren langwierigen Listenverhandlungen ausgegangen. Dennoch kann es, sollten die Grünen West tatsächlich scheitern, spannend werden für die innerparteiliche Befindlichkeit, wenn nach der Fusion nur ostdeutsche Grüne im Parlament sitzen. „Auch die Katastrophe hat noch etwas Gutes“, meinte Wollenberger, stellte jedoch zugleich klar, daß sie deswegen kein Triumpfgefühl verspüre. b.s.