IMBERLINERENSEMBLE

AUFINSTHEATER  ■  KEIN GRUND ZUM SELBSTMORD

Semjon Semjonowitschs kleinbürgerliche Nerven sind zerrüttet. Des nachts kann er nicht schlafen, weil ihn der Hunger drückt. Des tags mag er vom Teller nicht essen, denn Semjon ist arbeitslos, ein lausiger Versager, der auf Kosten seiner Frau lebt, die sich für ihn quält.

Nein, des Semjon Semjonowitsch's Nerven sind wahrlich zerrüttet. Das kann er seinem Weibchen auch demonstrieren, indem er sich so gegen das Knie schlägt, daß das Unterbein vorspringt. Da haben wir es: ein »Nervensymptom«, unheilbar. Und wie todeslüstern er daherredet und dann unheilschwanger in der Küche verschwindet: Er wird sich umbringen.

Da kann nur noch der fette Zimmernachbar helfen; ein als Schießbudenbesitzer ausgewiesener Grobian. Na, der nimmt den Selbstmörder in spe beim Kanthaken und bleut ihm ein: Das Leben ist schön. Semjon Semjonowitsch besinnt sich. Eigentlich hatte er in der Küche nur eine Leberwurst essen wollen, doch nun glaubt er, sich umbringen zu müssen. Die letzte Zufriedenheit der geschundenen Bürgerseele besteht in dem Gefühl, niemandem etwas zu schulden. Den Revolver an die Schläfe! Doch halt — so einfach ist das natürlich nicht! Nicht für einen ängstlichen Kleinbürger wie Semjon. Schon gar nicht in einer der komischsten Komödien, die der Russe Nikolai Erdmann uns hinterlassen hat.

Der Selbstmörder ist eine Satire und damit zunächst einmal zeitgebunden. War in der Zeit des ersten »Kriegskommunismus« noch alles ideologisch klar, traten jetzt, 10Jahre nach der Oktoberrevolution, die psychologischen Probleme der neuen Gesellschaftsordnung zutage. Wie der Kleinbürger mit seiner Laßt- Mich-In-Ruhe-Haltung alle kollektiven Ziele desavouierte, stand auf der Tagesordnung des revolutionären Theaters der jungen Sowjetunion. Doch unter der rigiden Führung der Stalinzeit drehte sich auch die Stoßrichtung dieser Satire: denn plötzlich war es ein Stück gegen die Herrschenden. Die von Meyerhold geplante Aufführung wurde '33 nach der Generalprobe verboten. Bei aller Karikatur des kleinbürgerlichen Miefs — die Möglichkeit, sich mit den Wünschen des Kleinbürgertums zu solidarisieren, fordert den Affront gegen die diktatorische Macht.

Keine Frage, daß die Satire Erdmanns heute fürs Aktuelle tauglich ist. Manfred Wekwerth hat in seiner Inszenierung vom April '89 viele deutsche Ingredienzien aufgenommen: vom Einkaufsnetz allzubunter Bananen bis zu dem Satz: Macht kaputt, was Euch kaputt macht. Ein bunt schillerndes Panoptikum von kleinlich-kleine und möchte-großen Stehaufmännchen, die aus der vermeintlichen Todessehnsucht des ängstlichen Würstchens Semjon einen finanziellen oder ideologischen Vorteil für sich herausschlagen wollen. Eine großangelegte Aufräumaktion quer durchs soziale Umfeld und die ideologischen Lager. Die definitive Komödie ohne den realexistierenden Helden des Positiven machts möglich. Wohltuend wie hier gelingt es endlich einmal, aus dem einst erzwungenen Geheimton einer nur flüsterbaren Allegorie zu einer laut und dreist scherzenden Ausgelassenheit zu finden, die gleichwohl kritischen Unterton nicht verliert. Der Witz behält die Oberhand und das ist — einer Satire gemäß — auch gut so.

Am Ende verlangt der wieder lebensfreudige Semjon wenigstens flüstern zu dürfen, wie schwer er's hat. Sicher ein fürs totalitäre Regime immer noch revolutionäres Bedürfnis; im Bewußtsein einer wie auch immer angehenden Demokratie aber ein regressiver Schritt. Daß diese Inszenierung des BE heftig und laut lachen läßt, macht sie lebendig — vielleicht auch fortschrittlich. baal (Foto: Vera Tenschert)

HEUTE19UHR,DANNWIEDERAM4.1.91