Weltspitze als Maßstab

■ Klaus Milbradt, neuer Cheftrainer der Kunstturner PORTRAIT

Seit sechs Wochen ist Klaus Milbradt als Cheftrainer der Kunstturner im Amt. Der gebürtige Mecklenburger gehört zu den Ausnahmen im gewendeten deutschen Sport: als erfolgreicher Trainer in der ehemaligen DDR übertrug der Deutsche Turner-Bund (DTB) ihm die Hauptverantwortung für diese Sportart. Den Ex-Cheftrainer West, Franz Heinlein, stellte ihm DTB-Kunstturnwart Eberhard Gienger als „Chefassistenten“ an die Seite.

Kunstturnen hat das Leben von Klaus Milbradt immer bestimmt. Der heute 50jährige, gedrungene Mann brachte es in den sechziger Jahren bis zum Mitglied in der DDR-Riege. Nach dem Sportlehrerstudium in Leipzig wurde er als Trainer zum Sport-Club Halle „delegiert“. Bis 1980 arbeitete er dort als sogenannter „Trainer am Mann“. Danach war er bis zum DDR-Ende Cheftrainer in Halle. Er beaufsichtigte zehn bis elf Trainer, die etwa 70 Turner in allen Altersklassen (ab zehn Jahren) betreuten.

Seine direkte Beziehung zu den Turnern verlor er nie. „Ich verstehe mich bis heute als Cheftrainer in der Halle“, beschreibt Klaus Milbradt seine Position. „Schreibtischtrainer“, wollte er nie sein. Er griff gezielt in das Training seines Clubs ein und war sich nicht zu schade, auch einmal „drei Monate nur die Altersklasse 12 zu trainieren“, wenn er der Meinung war, die „müßten schon weiter sein“.

Halle wird nun in der Neuzeit des deutschen Turnens zum Bundesleistungszentrum, wobei Klaus Milbradt klar ist, daß die „bisherige Qualität nicht mehr haltbar ist“. Doch hat er Hoffnung, daß fast alle Trainer auch im nächsten Jahr, die meisten auf ABM-Basis, weiterarbeiten. Abgespeckt hat man bisher erst auf 60 Turner. Auch existiert die Kinder- und Jugendsportschule weiter. Milbradt konnte sogar bei der Schulleitung durchsetzen, daß ab Januar bereits Neunjährige aufgenommen werden, um das „Lernpotential von Kindern gerade im Turnen bis zur Pubertät voll auszuschöpfen“.

Der neue deutsche Cheftrainer, der beim kürzlich stattgefundenen gewonnenen Länderkampf in der Schweiz seinen Einstand gab, ist momentan jedoch erst einmal ständig unterwegs. „7.000 Kilometer bin ich im vergangenen Monat gefahren, um einen ersten Überblick in den Leistungszentren zu bekommen“, berichtet Milbradt, wobei ihm Franz Heinlein den Süden Deutschlands bisher noch abgenommen hat.

Mit dem Schwaben Heinlein versteht sich Klaus Milbradt gut. Da macht es anscheinend auch nichts, daß Milbradt mit 2.500 Mark brutto nicht einmal die Hälfte seines Westkollegen verdient. „Reibungspunkte sind nicht zu erkennen“, meint Milbradt, genauso sieht es Heinlein. Beide sind eher zurückhaltende sachliche Typen, denen das laute Poltern fremd ist. Sie bevorzugen im Umgang mit den Turnern die leisen Töne. Eine Sensibilität, die bei den Akteuren spürbar ankommt. So fühlt sich auch der Westturner Ralph Kern durch den Osttrainer „neu motiviert“.

„Sachlichkeit“ oder „Objektivität“ sind auch in der Bewertungssportart Kunstturnen für Milbradt die entscheidenden Stichworte. Im Hinblick auf das Kaderausscheidungsturnen Mitte Dezember in Berlin, bei dem es für 48 Starter um die Aufteilung der harten Mark, sprich Sporthilfeversorgung, gehen wird, möchte er den „subjektiven Faktor weitgehend ausschalten“. Neben den Wertungen der Juroren wird auch der Schwierigkeitsgrad der Übungen gewichtet und dann ein Gesamturteil gebildet. Videoaufzeichnungen und Computeranalysen sollen dabei helfen.

Klaus Milbradt möchte damit Konflikten um die Kaderzugehörigkeit begegnen, mit denen sicher zu rechnen ist. Er weiß, daß es für die Ostturner um die nackte Existenz geht. Wie sein erfolgreicher Sohn Jens, Vizeeuropameister an den Ringen, erhalten auch die Turner der ersten Kategorie bis heute nur ein Stipendium von 180 Mark und ganze 60 Mark Verpflegungszuschuß. Deshalb werden sie mit letztem Einsatz um die zehn mit 800 bis 1.000 Mark ausgestatteten A-Kader-Plätze kämpfen.

Daß die Riege für die WM in Indianapolis (September 1991) dann nur aus Ostdeutschen besteht, will Klaus Milbradt nicht ausschließen, er sieht jedoch auch für Mike Beckmann und Ralph Kern einen reelle Chance dabeizusein. Für ihn ist wie in der Ex-DDR „die Weltspitze der Maßstab“ seines Handelns. „Eine Medaille bei der WM mit der Mannschaft“ hat er im Visier; schließlich gilt es, das DDR-Silber von Seoul und Stuttgart zu verteidigen.

Auf jeden Fall wird er für alle Beteiligten (Turner wie Trainer) ein verbindliches, am Medaillenziel ausgerichtetes Konzept vorlegen. Wer nicht mitzieht, fliegt aus dem Kader, es sei denn, „er ist genial“, schmunzelt Milbradt vielsagend. Für die Westturner jedenfalls, die bisher trotz lascher Trainingsauffassung immer noch einen Platz in der DTB-Riege fanden, wird es keine Gnade mehr geben. Karl-Wilhelm Götte