Die Zwanzig-Pfennig-Mahlzeit ist vielen zu teuer

Im von Fujimoris Wirtschaftsschock gebeutelten Peru müssen Millionen durch Volksküchen ernährt werden/ Hunger breitet sich aus, die Regierung enthält sich der Verantwortung/ Notspeisungen statt Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen/ Das Selbstvertrauen der Armen schwindet  ■ Aus Lima Ciro Krauthausen

Julia Rosero fuchtelt mit dem Kochlöffel: „Unsere Vorräte gehen wieder zu Ende.“ Zusammen mit fünf anderen Frauen kocht sie in einer der über 20 Volksküchen in den Elendsvierteln eines Vororts von Lima, Cieneguilla. Der Reis, der auf einem alten Grillrost in der Mache ist, stammt aus internationalen Lebensmittelspenden, und mit ein bißchen Gemüse angereichert muß er für 93 Mittagessen reichen. Die Mahlzeiten sind dürftig, aber lebenswichtig: etwas anderes als das gebotene Mittagessen für 50.000 Intis kann sich hier kaum jemand leisten.

Und selbst diese zwanzig Pfennig sind für Familien mit sechs oder mehr Kindern oft schon zuviel. Nicht weit von der Volksküche nimmt ein etwa achtjähriges Mädchen ein Stück trockenen Kuchen an. Die spindeldürre Kleine zittert, als sie ihre Arme ausstreckt. Ihre tief eingefallenen Augenhöhlen zeugen von schwerster Unterernährung.

Zwischen sieben und zwölf der zwanzig Millionen PeruanerInnen leben in „extremer Armut“ — sie können sich kaum aus eigener Kraft ernähren. Die Statistik des Hungers ist in die Höhe geschossen, seitdem am vergangenenen 8. August Premier- und Wirtschaftsminister Juan Carlos Hurtado Miller ein Paket von Wirtschaftsmaßnahmen zur Eindämmung der Inflation bekanntgab und über Nacht alle Preise drastisch erhöht wurden. Julia Rosero aus Cieneguilla erinnert sich: Plötzlich war das Brot viermal, die Milch sechsmal so teuer als vor dem nach Präsident Alberto Fujimori benannten „Fuji- Shock“. Julias Mann verdient als Wächter eines Wochenendhauses gerade den gesetzlichen Mindestlohn, umgerechnet monatlich etwa 90 DM. Damit sind fünf Kinder zu ernähren — bei einem Preisniveau wie in Deutschland.

Um Millionen PeruanerInnen vor dem Hungertod und die Regierung vor einem Volksaufstand zu bewahren, gab Premierminister Hurtado noch am 8. August den „Plan des sozialen Notstandes“ bekannt. Mit dem „Pes“ sollten sieben Millionen Peruanerinnen täglich mit einem Essen versorgt, 340.000 Arbeitsplätze geschaffen und die Gesundheitsversorgung von über zwei Millionen Menschen garantiert werden. Wohl die staatliche Ineffizienz und Korruption vorausahnend, übertrug die Regierung einen großen Teil der Ausführung des Planes an ein Komitee aus kirchlichen und internationalen Hilfsorganisationen, Bürgerinitiativen und Unternehmerverbänden. Glücklicherweise war das Notstandskomitee vorbereitet: ein für eventuelle Trockenzeiten in den Anden und daraus resultierende Lebensmittelengpässe erarbeitetes Aktionsprogramm konnte aus der Schublade gezogen werden.

Irgendwo im weißen Betonbau der kirchlichen Organisation Caritas-Lima im Zentrum der Hauptstadt trällern Nonnen ein Kirchenlied. Aus einem Lagerraum werden Säcke voller Reis und Mehl in Lieferwagen verladen, Straßenkinder holen sich eine warme Mahlzeit ab, und in dem Großraumbüro im zweiten Stock koordinieren 59 Sozialarbeiterinnen einen Teil der Nahrungsmittelversorgung in den Armenvierteln Limas. Alles dreht sich um Schwester Rosa Ballon die den Laden fast alleine zu schmeißen scheint. „Durch den Notstand mußten wir alles überstürzen“, bemerkt sie knapp, bevor sie in einer Wolke von Bittstellerinnen, die für ihre Volksküche noch einen Topf oder einen Kanister Öl brauchen, verschwindet.

Früher unterstützte Caritas-Lima — eine von sechs Organisationen, die derzeit die Nahrungsmittelversorgung im Großraum Lima übernehmen — 1.119 Volksküchen, nach dem Schock kamen 5.721 dazu. Die Sozialarbeiterin Eda Perez schätzt, daß Caritas-Lima täglich 970.000 Menschen zwar nicht mit einer ganzen Mahlzeit, aber doch mit einigen Grundnahrungsmitteln versorgt. „Wir stellen etwas Reis und Öl, und den Rest müssen sich die Leute selber besorgen.“

Doch die Nahrungsmittelreserven der Caritas wie auch der anderen Organisationen gehen zu Neige. Die Vorräte an Lebensmitteln, die noch aus der Zeit vor dem „Fuji-Schock“ stammten, sind aufgebraucht. Internationale Sendungen sind größtenteils erst für die nächsten Monate zu erwarten, und — die Regierung zahlt nicht. Von den 250 Millionen Dollar, zu denen sie sich für den Zeitraum zwischen August und Dezember verpflichtet hatte, sind bislang nur 44 an den Notstandsplan überwiesen worden. Alberto Fujimori hat andere Prioritäten als den Hunger seines Volkes.

„Die Situation ist dramatisch.“ Bischof Albano Quinn aus Cuzco zieht über den Notstandsplan in seiner Diözese Bilanz. In Lima mag die Versorgung der Bevölkerung mehr schlecht denn recht vonstatten gehen — in den Provinzen dagegen hat sich noch weniger getan. Nicht nur, daß der Moloch Lima viele der Hilfsgelder eingesackt hat: der Weg nach Cuzco, Ayacucho oder Chimbote ist auch weit genug, damit Mittelsmänner Teile der Lebensmittelspenden beiseite schaffen können. Jener Parlamentsabgeordnete der Regierungspartei Cambio 90, der — laut der Tageszeitung 'El Comercio‘ — für seine Provinz Huancavelica 78 Tonnen Nahrungsmittel beantragte und bekam, sie dann aber an Parteigänger statt an unterernährte Kinder verteilte, ist keineswegs die Ausnahme.

„Wenn nicht schleunigst Arbeitsplätze geschaffen werden, wird sich die Lage noch verschlimmern.“ Schwester Rosa Ballon erinnert daran, daß der Notstandsplan außer Volksküchen ursprünglich auch noch andere Dinge vorsah. Für die Gesundheitsversorgung flossen Gelder an das Gesundheitsministerium — die jedoch in Gehälter investiert wurden. Arbeitsplätze sind überhaupt keine geschaffen worden. Wilfredo Alvarez, Parlamentsabgeordneter und Vertrauensmann von Fujimori, rät zur Umwandlung von Volksküchen in Kleinbetriebe. Einen Zeitpunkt für den Beginn solcher oder ähnlicher Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen weiß er jedoch nicht zu sagen. Schon jetzt schwindet das Selbstvertrauen der Notleidenden. „Obwohl sie sich auch einiges selber besorgen könnten, kochen die Frauen nur dann, wenn ich ihnen Lebensmittel bringe“, erzählt Luisa, eine Sozialarbeiterin, über eine Volksküche. Bloße Essenverteilung, wie sie vielerorts durchgeführt wird, ist genau das Gegenteil des Schlagworts „Hilfe zur Selbsthilfe“.

Auf die Frage, ob sie meine, daß nach der Eindämmung der Inflation und dem Fuji-Schock die Lage nun besser würde, antwortet Julia Rosero aus Cieneguilla: „Ich glaube, es wird eher schlimmer.“ Es fällt schwer, ihr hoffnungsvoll zu widersprechen.