Die Gasmaske liegt unter dem Bett

In Israel stellt man sich auf einen möglichen Krieg mit dem Irak ein/ Keine Panik, aber unterdrückte Angst  ■ Aus Jerusalem Klaus Hillenbrand

„Hochrennen auf ein Hochhaus mußt Du, das Gas bleibt am Boden“, so der wohlgemeinte Ratschlag, und: „Auf keinen Fall in den Bunker gehen!“ „Wenn Du keine Maske hast, zieh Dir eine Plastiktüte über den Kopf“, lautet ein anderer Tip. Die blonde Frau um die Dreißig lacht. Ist der Hinweis als Scherz gemeint? Nein, das sei schon ein ernstes Thema, heißt es. Doch die Vorstellung ist zu unvorstellbar. Man kann darüber nicht ernsthaft diskutieren. Man kann darüber Witze machen, die Geschichte als übertrieben abtun, sich innerlich davonstehlen. Das Gas droht.

Die Masken liegen unterm Bett oder im Schrank im Wohnzimmer. Kaum einer trägt sie in Israel mit sich herum, zur Arbeit oder zum Einkaufen in der Ben-Yehuda-Straße. Die Militärs haben rund acht Stunden Vorwarnzeit errechnet. Zeit genug, um die Maske zu holen.

Viele Familien schließen, wie empfohlen, ein Zimmer ihrer Wohnung mit Klebeband luftdicht ab. Alle haben die Hochglanzbroschüre gelesen, die das Aufsetzen der Maske und den genauen Gebrauch von mitgelieferter Anti-Giftgasspritze und Puder in bunten Bildern beschreibt. Es gibt Masken für Erwachsene, für Kinder und eine Spezialversion für Babies. Vorsorglich haben die Rabbiner den ultraorthodoxen Juden das Scheren ihrer mächtigen Bärte erlaubt, wenn es zum Notfall kommen sollte. Saddam, wir sind gewappnet.

„Stellen Sie sich vor, in Deutschland oder in Amerika würden Gasmasken an die Bevölkerung verteilt. Panik wäre die Folge. Hier gab es keine Aufregung. Die Israelis neigen nicht zur Panik.“ Militärsprecher Mosche Vogel hält die Giftgasgefahr für gering. Lässig doziert er über die Kriegsalternativen: C-Waffen, B-Waffen, Raketenangriffe, massive Attacken mit Düsenjägern und konventionellen Waffen. Gegen letzteres, so Vogel, sei man gut gewappnet. Die Wahrscheinlichkeit von Schäden und Opfern bei Angriffen mit chemischen Waffen beurteilt er als verhältnismäßig gering. Den Raketen Iraks fehle die Treffgenauigkeit. Im übrigen sei die Verteilung der Masken lange geplant gewesen, gewissermaßen ein Zufall, daß gleichzeitig Saddam in Kuwait einmarschiert ist. „Wir sind nicht in einer Notsituation.“

„Die Angst wird verdrängt“, meint Rahel Freudenthal, Sozialwissenschaftlerin und aktiv in der israelischen Friedensbewegung. „Man kann nicht Tag und Nacht daran denken. Das Leben geht weiter. Aber auch ich habe Angst.“ Draußen, ein paar Schritte von ihrer Wohnung entfernt, findet laut und fröhlich wie immer der große Jerusalemer Markt statt. In der engen überdachten Straße des Mahane Yehuda drängeln sich die Menschen um frisches Obst, verlockendes Gemüse, auf Eis angebotene Fische. Ein paar Karpfen schwimmen in einem Plastikeimer im Kreis. Laut werden die Waren angepriesen. Hier soll ein Krieg stattfinden?

Noch ist die Verteilung der Gasmasken nicht ganz abgeschlossen. Die immensen Kosten für die über vier Millionen Israelis werden ihnen automatisch bei der Sozialversichung auferlegt. Palästinenser in den besetzten Gebieten können die Masken kaufen: 18 US-Dollar das Stück.

In der Fußgängerzone der Innenstadt sitzen junge Pärchen in den Stühlen vor den Kaffeehäusern — wie immer. Auf der Straße patrouillieren Soldaten mit Gewehren — wie immer. Nein, keine Angst hätten sie, antworten Jugendliche. Sie lächeln. Die Einwanderung sowjetischer Juden geht unvermindert weiter. Monatlich erreichen mehr als 10.000 von ihnen ihre neue Heimat. An einen Stopp wegen Saddams Giftgasdrohung ist nicht gedacht.

Die Zeitungen überbieten sich mit Kriegsszenarien. Oppositionschef und Arbeiterparteiführer Schimon Peres meint, der Krieg käme früher, als manche glaubten. Die 'Jerusalem Post‘ tippte, kurz vor Verabschiedung des letzten UNO-Ultimatums, auf Mitte Dezember, vielleicht noch früher. Im Außenministerium erklärt ein führender Regierungsberater, der nicht genannt werden möchte, die Diskussion um Krieg oder Nicht-Krieg sei sinnlos. Niemand könne voraussagen, was passieren werde. Und Israel? Wenn der Krieg am Golf beginnt, dann werde auch Israel mit hineingezogen, ist die häufig geäußerte Überzeugung. Raketen auf Tel Aviv und ein anschließender Gegenschlag Israels seien das simpelste Mittel, um eine Solidarisierung der arabischen Massen hinter Saddam zu erreichen, da Irak dann nicht nur gegen den Satan Amerika, sondern auch den „zionistischen Erzfeind“ zu kämpfen habe.

„Israel tut alles, um die USA zu überzeugen, den Krieg zu beginnen“, so Guidon Spiro, 1933 im Berlin geboren, 1939 emigriert, ehemaliger Fallschirmspringer der israelischen Armee und heute Friedensaktivist. Eine friedliche Lösung berge mehr Gefahren als Nutzen, meint ein Regierungsbeamter. Iraks Militärmaschine müsse jetzt zerstört werden, bevor Saddam Hussein in ein paar Jahren über eine noch schrecklichere Waffe verfüge: die Atombombe. Kuwait kann den Israelis einigermaßen egal sein. Ihnen geht es um die geballte Militärmacht des Irak, die zerschlagen werden müsse.

In Israel läuft die Vorkriegszeit langsam ab, und mit jeden Tag rückt der Krieg ein bißchen näher. Wenn es denn Krieg gibt. Wenn der Irak überhaupt eine einzige Rakete mit chemischem Sprengkopf besitzt. Alles ist unsicher. Wo der Krieg beginnt, ob am Flughafen Ben Gurion, in der Innenstadt von Tel Aviv, in der Wüste oder in einem Jerusalemer Kindergarten — keiner weiß es.

In Schulklassen wird das Verhalten bei Gasangriffen simuliert. Für die Kinder ist es eine angenehme Abwechslung, keine Spur von Panik.

Ob die Gasmasken wirklich helfen, wird oft bezweifelt, auch von vielen Eltern. Zumindest aber beruhigen sie. Schließlich sind die Filter der Masken „Made in Germany“ — genauso wie die Labors für das tödliche Gift im Irak.