Jeder Palästinenser gilt als Messerstecher

Seit der Solidarisierung von Palästinensern mit Saddam Hussein läuft nichts mehr zwischen israelischer Friedensbewegung und den Bewohnern der besetzten Gebiete/ In Jerusalem gehen Juden und Palästinenser sich strikt aus dem Wege  ■ Aus Jerusalem Klaus Hillenbrand

„Früher gab es jeden Tag eine Aktion. Heute läuft fast nichts mehr.“ Rahel Freudenthal hat mit ihrer kleinen Friedensgruppe noch nicht aufgegeben. Doch sie sind weniger geworden. „Ich kann öffentlich keine Partei mehr für die Palästinenser ergreifen“, erklärt Guidon Spiro von der Kriegsdienstverweigerergruppe „Yesh Gvul“ (Es gibt eine Grenze), die den Einsatz in den besetzten Gebieten ablehnt. „Keiner würde mich begreifen. Die Isolation der Linken hat sich dramatisch verschärft. Der Fundamentalismus unter Juden und Palästinensern wächst gleichermaßen.“ Seitdem Palästinenser mit irakischen Flaggen ihre Solidarität mit Saddam Hussein demonstrierten und die PLO offen mit dem irakischen Regime sympathisiert, sind die Kontakte zwischen israelischer Friedensbewegung und den Arabern in den besetzten Gebieten weitgehend zusammengebrochen. Die Linke ist paralysiert. „Ihr könnt mich suchen“ überschrieb Yossi Sarid von der Bürgerrechtsbewegung Raz einen Artikel, mit dem er seine Unterstützung der Palästinenser aufkündigte. Wer heute noch für Verständnis mit den Palästinensern und der Initifada wirbt, stößt in der Öffentlichkeit auf völliges Unverständnis. Die Rechte hat es schon immer gewußt, daß man mit diesen „Terroristen“ nicht verhandeln könne. „Israel hat durch seine Verweigerungshaltung die Palästinenser so weit in die Ecke getrieben, daß sie heute Saddam Hussein unterstützen“, meint Guidon Spiro. Mag sein. Doch hören will das keiner.

In Jerusalem ist der Aufstand der Palästinenser nicht mehr, wie noch vor kurzem, weit weg und nur im Fernsehen zu sehen, sondern täglich präsent. Die Intifada hat die „heilige Stadt“ erreicht. Kein Jude, auch kein Aktivist der Friedensbewegung, betritt mehr den arabischen Osten. „Das wäre eine Provokation gegenüber den Palästinensern“, so Guidon Spiro. Nicht nur das: Es ist die Angst, einem Attentat zum Opfer zu fallen. Seit dem Massaker von Palästinensern am Tempelberg, das hier als „die Ereignisse“ bezeichnet wird, betreten immer weniger Palästinenser den jüdisch besiedelten Westen. Die Stadt ist so wirkungsvoll geteilt, wie es kaum eine Stacheldrahtsperre könnte. „Wir können dagegen nicht viel tun“, meint Bonnie Boxer von der Jerusalemer Stadtverwaltung. „Das ist ein nationales Problem.“ Zwar berühren die täglichen Auseinandersetzungen mit Steinen, Tränengas und Gummigeschossen nur die arabischen Stadtviertel. Doch seit mehr als ein Dutzend palästinensische Einzeltäter in jüdischen Quartieren mit Messern auf Passanten losgingen, mehrere töteten und etliche verletzten, ist die Angst überall. „Bei jedem Araber schaust du unbewußt, ob er nicht ein Messer hat“, gesteht Spiro. Die Kinder werden von den Erwachsenen angehalten, nicht überall zu spielen. Zur Verteidigung empfiehlt die 'Jerusalem Post‘ das Waffengeschäft „Magnum 88“ in der Rehov Ben Sira18 mit seinem wohlsortierten Angebot. Jeder Araber ein potentieller Messerstecher.

Als die Regierung im November Israel entlang der Grenze von 1967 — der sogenannten grünen Linie — für eine Woche ab- und damit alle arabischen Bewohner der besetzten Gebiete aussperrte, wurde diese Aktion von der jüdischen Bevölkerung Jerusalems nahezu einhellig begrüßt. Die Gefahr der Messerstecher schien für ein paar Tage gebannt. Auch manche Linke unterstützten die Aktion, weil plötzlich wieder die alten Grenzen von 1967 galten. Doch auch ohne die vollständige Abschottung dürfen heute viele Palästinenser Israel nicht mehr betreten. Verdächtige und straffällig Gewordene erhalten eine „grüne Karte“ — sie bedeutet „rot“ an den Checkpoints der israelischen Armee.

Wenn die Intifada nur durch eine abgesperrte „grüne Linie“ aus dem Land herausgehalten werden kann, so fragen sich jedoch zunehmend mehr Israelis, warum soll man dann nicht die „grüne Linie“ überhaupt wieder zur Grenze machen und die besetzten Gebiete aufgeben? Die Antwort von Rechts außen auf diese Frage lautet: Mitnichten, vielmehr solle man alle Palästinenser aus Westbank und Gazastreifen deportieren.

Die Absperrung der besetzten Gebiete hat viele Israelis in dem Glauben bestärkt, daß es auch ohne arabische Arbeitskräfte ginge. Als Patentlösung bietet sich an, daß die einwandernden sowjetischen Juden die Jobs der Palästinenser übernehmen, für die sich viele Israelis bisher zu schade waren. Insgesamt 170.000 sowjetische Juden erwartet Gad Ben- ari, Sprecher der Jewish Agency in Jerusalem, für 1990. Im nächsten Jahr sollen es 400.000 sein. Diese Entwicklung hat eine dramatische Wohnungsnot und etwa zehn Prozent Arbeitslosigkeit produziert. Ben-ari sieht schon jetzt einen Prozeß, in dem „immer weniger Palästinenser arbeiten und immer mehr sowjetische Juden deren Stellen übernehmen“. Ob es dazu kommt, daß die Neuankömmlinge tatsächlich alle diese schlecht bezahlten und oft harten Jobs übernehmen, wird freilich von vielen stark bezweifelt.

Die drohende Kriegsgefahr mit dem Irak hat den Konsensus in der israelischen Gesellschaft gestärkt. Der gemeinsame Gegner eint. Alle Parteien lehnen eine Verknüpfung von Golfkrise und Palästinenserproblem, wie es der Irak immer wieder gefordert hat und auch jetzt von Washington verlangt, prinzipiell ab. Arbeiterpartei, und die kleineren, links von ihr stehenden Gruppen Mapam und Raz kritisieren zwar das Fehlen eines Konzepts der Regierung für die besetzten Gebiete. Seit Monaten sind sämtliche Vor-Vor-Verhandlungen etwa mit den USA abgebrochen. Doch insgesamt sind Intifada und die besetzten Gebiete aus den Schlagzeilen verdrängt worden. Die Golfkrise beherrscht die Öffentlichkeit.

Nahe der großen Synagoge in Jerusalem stehen an jedem Freitagmittag vor Beginn des Schabbat etwa einhundert ganz in schwarz gekleidete Frauen. „Beendet die Besetzung jetzt“, verlangen sie. Sie tragen Schwarz als Zeichen der Trauer über die Opfer, Palästinenser und Juden. Sie standen auch schon vor einem Jahr hier und vor zwei Jahren. Ihre Trauer hört nicht auf. Die Zahl der Opfer wächst.