Schießbefehl schwer zu beurteilen

Prozeß gegen Honecker würde komplizierte juristische Fragen aufwerfen/ Bundesdeutsche Gerichte urteilten erst einmal über DDR-Schießbefehl/ Honeckers Zustand macht Prozeß zweifelhaft  ■ Von Vera Gaserow

Nach wie vor ist unklar, ob der ehemalige Staatsratsvorsitzende der DDR, Erich Honecker, aus der Obhut der sowjetischen Alliierten der westdeutschen Justiz überstellt wird. Doch selbst wenn der 78jährige aus dem sowjetischen Militärgefängnis Beelitz in das Berliner Untersuchungsgefängnis Moabit verlegt werden sollte, ist äußerst fraglich, ob es jemals zu einem Prozeß gegen ihn kommt. Denn Honecker ist schwerkrank und dürfte von den Ärzten kaum oder nur sehr begrenzt als verhandlungsfähig eingestuft werden. Kommen die Mediziner jedoch zu der Einschätzung, daß der einst mächtigste Mann der DDR seiner Gerichtsverhandlung nur sehr begrenzt folgen könnte, dann müßte Honecker — so meinen jedenfalls seine Anwälte — bald wieder auf freiem Fuß sein. Denn bei dem zu erwartenden Mammutprozeß stellt eine dauerhaft stark eingeschränkte Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten ein Verfahrenshindernis dar, daß schon im Vorfeld zur Einstellung des Verfahrens und zur Aufhebung des Haftbefehls führen müßte.

Der Berliner Justiz, die Honecker des gemeinschaftlichen Totschlags verdächtigt, dürfte es gar nicht so unlieb sein, daß der jetzt ausgestellte Haftbefehl gegen den Ex-Staatsratsvorsitzenden auf diese Weise eher eine politische und moralische Geste bleibt. Denn mit einem Verfahren gegen Honecker würden sich die Richter auf kompliziertes juristisches Terrain begeben, das auch unter Experten umstritten ist. Dreh- und Angelpunkt eines Prozesses gegen Honecker wäre die Frage, die sich auch in vielen Verfahren gegen Naziverbrecher gestellt hat: Wie sind Unrechtstaten und Verbrechen in einem politischen System juristisch zu fassen, wenn sich dieses System zuvor selbst gesetzliche Grundlagen für dieses Unrecht geschaffen hat? Streng juristisch betrachtet, haben sowohl Erich Honecker als auch DDR-Grenzsoldaten nur nach geltendem Recht gehandelt, wenn sie den Schießbefehl an der Grenze bekräftigten oder ausführten. Denn für den Schußwaffengebrauch an der Grenze hatte sich die DDR ein eigenes rechtliches Instrumentarium von Paragraphen und Verordnungen geschaffen. Kernpunkt ist der Paragraph 27 des „Gesetzes über die Staatsgrenze der DDR“. Darin ist geregelt, daß Grenzsoldaten die Schußwaffe zur Verhinderung einer bevorstehenden oder gerade ausgeübten Straftat einsetzen sollen oder aber zur Verhinderung eines Verbrechens. Als Verbrechen galt nach dem DDR-Strafgesetzbuch auch der „ungesetzliche Grenzübertritt“. Mit dieser immanenten Logik des DDR- Rechtssystems hat sich die bundesdeutsche Justiz bisher schwergetan, wenn sie über Straftaten von ehemaligen DDR-Bürgern auf dem Territorium der DDR zu urteilen hatte.

Seit Bestehen der innerdeutschen Grenze und der Berliner Mauer hat es nur ein Urteil über den Schießbefehl gegeben: 1963 befand das Landgericht Stuttgart einen ehemaligen Stabsgefreiten der DDR-Grenztruppen im Zusammenhang mit dem Schußwaffeneinsatz an der Grenze für schuldig und verurteilte ihn wegen versuchten Totschlags. Das Gericht hatte dabei in seinem Urteil das gesetzliche Verbot, die DDR zu verlassen, für nichtig und verfassungswidrig erklärt, da die Bundesrepublik und die DDR laut Grundgesetz ja ein einziger Staat seien. Außerdem verstoße der Schießbefehl gegen sogenanntes „überpositives Recht“, gegen ungeschriebene, aber höherwertige Rechtsgrundsätze von Menschlichkeit und Gerechtigkeit.

Dieses bisher einzige Urteil in Sachen Schießbefehl blieb in Juristenkreisen jedoch nicht unumstritten. So argumentierte der Bonner Jura- Professor Dr. Gerald Grünwald, daß die „Schußwaffengebrauchsbestimmungen als geltendes Recht der DDR anzusehen sind“ und die Unterbindung der Abwanderung aus der DDR nicht einfach als nicht legitim angesehen werden dürfte. Ein DDR-Bürger, der als Grenzsoldat andere mit Waffengewalt am ungesetzlichen Grenzübertritt hinderte, könne deswegen in der Bundesrepublik strafrechtlich nicht zur Veranwortung gezogen werden, schrieben auch andere Rechtsexperten — und ernteten wiederum heftigen Widerspruch.

Angesichts dieser juristischen Zwickmühle beruft sich der Haftbefehl des Berliner Amtsgerichts gegen Erich Honecker auch nicht nur auf immanentes DDR-Strafrecht, sondern zieht zur Unterstützung internationale Verträge heran. So habe die DDR sowohl die UNO-Menschenrechtskonvention als auch die KSZE- Schlußakte von Helsinki unterzeichnet, in denen auch das Recht eines jeden Bürgers, sein Land zu verlassen, festgelegt ist. Die UNO-Charta, so kontern jetzt jedoch Honeckers Anwälte, habe die DDR nie als innerstaatliches Recht übernommen.