Offener Brief an Werner Lotze

■ betr.: Interview mit Werner Lotze im ARD-Brennpunkt am 20.11.90

betr.: Interview mit Werner Lotze im ARD-Brennpunkt am 20.11.90

Lieber Werner! [...] Dein Interview macht mich betroffen, denn es stellt eine Verbindung her zu dem, was Du „Wertesystem“ der Linken nennst. Damit meinst Du ja offensichtlich etwas anderes als eine Vorzeiggesinnung. Deine Selbstkritik erfaßt nicht nur die RAF, sondern alle politischen Gruppen, religiösen Zirkel, wirtschaftlichen, militärischen und sozialen Interessengruppen, die eine Vorzeiggesinnung fordern. Auch die Organisation, für die ich arbeite — amnesty international — muß sich gelegentlich dagegen wehren, von gewaltausübenden Gruppen als Alibi für ihre angebliche Friedfertigkeit mißbraucht zu werden. [...]

Ein Interview zeigt, daß mit der Parteinahme gegen Gewalt ein mörderischer, jahrzehntelanger Kampf verbunden sein kann, der alles, auch die eigenen Gewissengründe infragestellt. Ich bin froh (wenn auch nicht erleichtert), daß Du mich, den „Zuschauer in der ersten Reihe“ daran erinnerst.

Da ist die Erinnerung an meine eigene Biographie und an die vielen heute Vierzigjährigen, die vor 20 Jahren stolz waren auf ihre Kritikfähigkeit, Entschlossenheit zum Handeln und zum Mißtrauen gegenüber Großen Koalitionen des Profitinteresses und Denkbastionen des „gesunden Volksempfindens“. Aber waren wir, die Linke und/oder die RAF wirklich die Subjekte des Widerstands gegen Gewalt? Geht es denn heute immer nur darum, „wie wir waren und was wir wurden“ oder spielen da noch ganz andere Zwänge eine Rolle, die uns damals wie heute zur Selbstaufgabe nötigten?

Von ehedem in der Linken proklamierten „Notwendigkeiten“ blieb die „Wende“ übrig, und die soziale Not ist für die „Ausländer“ des Systems geblieben. Sollen wir die sozialen Leitbilder der sechziger Jahre, zum Beispiel Che Guevara vergessen, die den Verzicht auf Gewalt ebenso hervorhoben wie die Legitimität einer Gewalt in Notwehr? „Verwandelt Euren Haß in revolutionäre Energie!“

Wurden all jene Bundesbürger, die sich irgendwann einmal, freiwillig oder gezwungenermaßen, von Gewalt distanzierten, dadurch zu „friedliebenden“ Menschen? [...] Welche hinter und mit der Linken agierenden Gesetzmäßigkeiten sprichst Du an, wenn Du mehrfach wiederholst: „Für die RAF war das notwendig“?

Der Kommentator bezeichnete Dein Interview als „Offenbarung“. Das suggeriert den Eindruck, daß es keine Geheimnisse mehr gibt. In der Herrschaftsordnung unseres Rechtssystems hat dieser Begriff eine radikale und grundsätzliche Bedeutung: Mit dem Offenbarungseid schließt sich der ehemalige Kampfgegner und Konkurrent selbst aus und kapituliert, ohne weitere Bedingungen zu stellen. Damit soll er die Spielregeln der anderen, ihre Sicherheit und das gegenseitige Vertrauen in die Zuverlässigkeit des Systems garantieren. Warum brauchen die Konkurrenten in unserer Gesellschaft aber in dem Spiel, an dem wir uns alle beteiligen (survival of the fittest) solch eine „Offenbarung“? Warum reichen uns nicht die Niederlagen der RAF? Weshalb mußt/willst Du öffentlich abschwören und die Spielregeln loben?

Steckt dahinter nicht eine gewaltige Angst des waffentechnisch und propagandistisch überlegenen Systems vor der Kritikfähigkeit der eigenen Bürger ebenso wie vor ihrer Unsicherheit und Manipulierbarkeit?

In der Wirtschaftswelt warnt der Offenbarungseid vor zu leichtfertigem Vertrauen in eine Firma und/oder eine Person, die vielleicht noch Vorteile und Gewinn versprechen könnte. Deine „Offenbarung“ trägt dazu bei, alle der RAF direkt oder indirekt zugehörigen Bevölkerungsteile moralisch zu liquidieren. Gleichzeitig wird die altbekannte Drohfrage an die Linken gerichtet: Wer interessiert sich für die RAF?

In dem ich diesen Brief auch veröffentliche, will ich zwei Dinge deutlich machen:

1.Wer Gewalt verhindern will, sollte sein Recht gebrauchen dürfen, mit allen gesellschaftlichen Gruppen Verbindungen aufzunehmen.

2.Die Inkriminierung von Personen, die in gewaltfreier Absicht Verbindungen zu Systemoppositionellen herstellen (zum Beispiel JournalistInnen, AnwältInnen, Angehörige von Menschenrechtsorganisationen und so weiter), fördert die Gewaltbereitschaft in unserer Gesellschaft und nützt jenen, die sich beruflich und/oder existentiell auf das Vorhandensein von Gewalt eingerichtet haben.

„Wer sich nicht in Gefahr begibt, kommt darin um“, war zum Beispiel eine These im „Deutschen Herbst“. Die Linken mußten damit rechnen, daß sie zum Beispiel durch Veröffentlichungen, in denen sie zum Gewaltpotential in der Gesellschaft Stellung nahmen, in Gefahr gerieten. Indem sie gegen die scheinbar unumstößliche Wahrheit Gewalt=Sozialismus=DDR=Terrorismus mehr Aufklärung forderten über die Ursachen und Zusammenhänge der alltäglichen Gewalt, wurden sie für den Verfassungsschutz zu potentiellen Gewalttätern. Damals folgte innerhalb der Linken, nach der lange Jahre währenden Begeisterung für Notwehrgewalt und Befreiungskampf in der Dritten Welt, ein Distanzierungstango mit teilweise akrobatischen Kunstfiguren. Während Revolutionäre im Beruf und Berufsrevolutionäre sich gegenseitig aus den Augen verloren, schien der Verfassungsschutz die Tanzregeln zu erteilen. Das Sozialistische Büro Offenbach warnte dagegen davor, die eigenen Identität zu verleugnen und aus Angst zu Lügen und Ausreden Zuflucht zu nehmen. Das würde Überlegenheitsgebärden, Machtanmaßungen, Willkür- und Gewalthandlungen der politischen Gegner geradezu herausfordern. Besonders nach der Entführung von H.M.Schleyer war zu befürchten, daß die RAF nicht nur „den Staat“ erpressen würde, sondern auch all jene, die bis dahin noch offen eine Revolution mit friedlichen Mitteln propagierten. Zu jener Zeit distanzierten sich die oben angegebene sozialistische Gruppe und unzählige andere von Methoden von Mord und Terror, ohne die eigene revolutionäre Identität zu verleugnen.

Heute wächst die Gefahr, daß wir uns auf unsere ideologischen und militärischen Positionen in der Festung Europa zuviel einbilden und die Vorstellungen von Umsturzbewegungen in der Dritten Welt immer bizarrer und zwanghafter werden. [...]

Der Protest gegen die Isolationsbedingungen im Knast betrifft/betraf nicht nur die RAF-Gefangenen. Und die Frage, ob hier oder im Ausland Mißhandlungen an Gefangenen möglich sind, ist nicht dadurch geklärt, daß Du sagst, die Leute, die Du kennst, hätten die Haftbedingungen als Kampfbedingungen akzeptiert und daher nicht so stark gelitten. Mir ist unbehaglich bei der Pauschalität solcher Urteile. Aus der Erfahrung mit der Nachforschungsarbeit von amnesty international weiß ich, daß Pauschalurteile ablenken von der Untersuchung tatsächlicher Menschenrechtsverletzungen.[...]

Obwohl linke Gruppen immer wieder mit dem Baader-Meinhof- Brandzeichen stigmatisiert wurden, hielten viele eine öffentliche Lossagung von oder gar eine Kumpanei mit dem Staat gegen Aktivisten aus der RAF aus zwei Gründen für falsch:

1.Die Unterscheidungen von legitimer Notwehrgewalt und willkürlich- irrationaler Gewalt konnten — das hatten endlose Dialogversuche in den sechziger Jahren gezeigt — die politischen Gegner nicht nachvollziehen. Diese forderten einen totalen Gewaltverzicht der Linken, das heißt auch den Verzicht auf die Notwehrgewalt.

2.Die Linke kannte die historische Herkunft und die Legitimation der RAF. Am 2.Juni 1967 war Benno Ohnesorg bei einer Demonstration gegen das faschistische Schahregime getötet worden. Sie erkannte, daß der friedliche Dialog mit den ehemaligen Mittätern der Nazidiktatur weitere Gewaltopfer fordern würde, weil ein friedlicher Dialog und der Anspruch der Linken nach Offenheit nur Panikreaktionen und Brutalität mit jenen Rechten provozierte, die auch nach dem Kriege nicht bereit waren, ihre unter Hitler verbrecherisch erworbenen Privilegien in Frage zu stellen. Zudem war durch die vielen überheftigen Reaktionen auf linke Proteste offenkundig geworden, daß die Wehrbereitschaft von Polizei und Grenzschutz und deren waffentechnische Vorbereitung auf „Landfriedensbruch“ und Aufruhr politische Priorität hatten.

Nach der damals (und heute noch!) geltenden Strategie der Aufstandsbekämpfung wurden gewaltlose Widerstandshandlungen, welche die Qualität von „öffentlichem Aufruhr“ haben, als Gewalt im militärischen Vorfeld beurteilt. Demnach sind gewaltlos agierende BürgerrechtskämpferInnen stets als potentielle GewalttäterInnen einzuschätzen, solange sie ihre „Friedfertigkeit“ nicht in einer Gewaltkonfrontation „bewiesen“ haben. Diese Konfrontation muß die Ordnungsgewalt möglichst früh und „mutig“ herbeiführen, bevor sie die Kontrolle verliert. So lauten die Empfehlungen des britischen Brigadegenerals Frank Kitson zur „Abwehr von Subversion und Aufruhr.“ [...] (F.Kitson, Im Vorfeld des Krieges, Stuttgart 1974, S.134)

Warum tat sich die Linke bisher so schwer mit einer historisch kritischen Analyse der Entwicklung von Gewalt in ursprünglich gewaltlosen Oppositionsgruppen?

Die RAF war ein von den Medien geförderter Mythos. Sie war den Linken unbekannt. Eine öffentliche Auseinandersetzung mit ihr war nicht möglich, weil der Verfassungsschutz, die Polizei oder einzelne JournalistInnen meist mehr von ihr wußten als Angehörige der Linken. In erschreckender Weise wird dies zum Beispiel deutlich an dem Versuch von Prof.Brückner zu einem Dialog über die Gewalt innerhalb der Linken nach dem Mord an Ulrich Schmücker im Jahre 1974. Wie sich später immer mehr beweisen ließ, war der Verfassungsschutz viel besser als alle anderen informiert, weil sein Informant Weingraber selbst an dem Mord beteiligt war. Die AL Berlin belegte im November 1990, daß nicht nur die Staatsanwälte, sondern auch die Richter entscheidendes Beweismaterial 16 Jahre unterdrückten (taz vom 3.11.90). Auf eine „Offenbarung“ und ein Schuldeingeständnis wartet aber der Rechtsstaat noch immer.

Wenn Du heute quasi stellvertretend für alle anderen RAF-Mitglieder und Sympathisanten dem Fernsehen eine „Offenbarung“ lieferst, so ist für mich nicht so sehr interessant, wer die RAF wirklich war beziehungsweise was aus ihr wurde. Ich finde es deshalb auch überflüssig, ihren moralischen Qualitäten hinterherzuorakeln. Ich halte die folgende Frage für weitaus drängender, weil sie politisch ungeklärt und hochaktuell ist: Wer konnte und kann noch heute ein Interesse daran haben, daß sozial engagierte, revolutionäre Politik identifiziert wird mit Terrorismus?

Ich finde es gut, daß Du durch Dein Interview die Linken, Sozialisten, Sozialdemokraten, Grünen... — wie immer unsere ehemaligen Genossen heißen mögen — dazu herausforderst, ein Tabu anzugehen: Was bedeutet(e) „revolutionärer Kampf“? Wäre revolutionärer Kampf in der Bundesrepublik zu Bedeutung gelangt ohne die Gewalteskalation der Polizei und/oder der RAF und die Beteiligung der Massenmedien?

Ich glaube, daß die RAF im wesentlichen von der Politik der Linken ablenken sollte. Für diese Irreführung sind RAF-Angehörige ebenso verantwortlich wie rechte Gegner. Mir persönlich war seit meiner Mitgliedschaft im SDS der Hang bestimmter, oft einzelner Leute zur Rechthaberei ein Greuel: Entweder gestanden die anderen ihnen zu, daß sie Recht hatten, oder, wenn dies nicht der Fall war, so hatten diese dominierenden Persönlichkeiten einen Anlaß zur öffentlichen Anklage, weil sie ihr Recht nicht bekamen. Auf irgendeine Weise schienen sie immer im Recht zu sein, mindestens dadurch, daß sie sich über dieses Thema bemerkbar machten. Das Trauma der Linken, nicht angehört zu werden, schaffte ein Schuldgefühl, besonders jenen Personen zuzuhören, die ihr Recht auf freie Meinungsäußerung immer wieder in den Mittelpunkt einer Debatte stellten, unabhängig davon, ob diese Meinungsäußerung inhaltlich weiterführte.

Diese Kultur der Rechthaberei lenkt bis heute die Linken von einer Auseinandersetzung mit revolutionärer Energie ab. Das revolutionäre Engagement bricht ab oder verwandelt sich in voluntaristische Energie, wenn die Gretchenfrage nach der Gerechtigkeit oder dem gerechten Kampf gestellt wird — meist von Menschen, die die Prozesse von außen betrachten, aber sich innerlich stark identifizieren mit einer kämpfenden Gruppe. Aus seiner Erfahrung mit den bürgerlichen Vorurteilen über revolutionäre Kämpfe sagt G.B.Shaw: „Man wirft den Revolutionären vor, daß sie sich nicht an die Regeln des ,fair play' halten und daß sie daher im Unrecht sind. Recht und Unrecht und fair play sind aber zumeist die Tugenden der Zuschauer. Die Kämpfenden haben andere Probleme.“ [...]

Nachdem ich bisher viel über allgemeine Zusammenhänge geschrieben habe, möchte ich Dir unbedingt zu Deiner persönlichen Entscheidung zustimmen, weil ich sie für ehrlich und sehr mutig halte. [...] Rainer Bähr-Lequis, Sottrum