KOHL ZUM LETZTEN VONMATHIASBRÖCKERS

Für Helmut Kohl brachte der Wahlsonntag eine gute und eine schlechte Nachricht. Die gute: Er wurde zum Kanzler gewählt, die schlechte: Das wird nie wieder passieren. Denn daß er überhaupt noch einmal die Regierungsgewalt errang, hat nichts mit seiner Politik zu tun — sie ist ihm mit dem Fall der Mauer in den Schoß gefallen. Die Schlaumeier von Helmut Schmidt abwärts, die Kohl bestätigen, er habe „alles richtig gemacht“, können nicht darüber hinwegtäuschen, daß er eigentlich gar nichts gemacht hat. Es sei denn, man hält es für eine diplomatische Meisterleitung, der verhungernden Sowjetunion eine Unterschrift unter die Souveränitätsurkunde abzuluchsen. Und daß die Blitzeinführung der D-Mark in der DDR richtig war, wie die selbsternannten Durchschauer der ökonomischen Strukturen schon drei Tage später allseits verkündeten, steht bis dato in keiner Weise fest. Klar ist nur, daß bei der überstürzten, von Wahltaktik diktierten Währungsunion Milliardenbeträge in schwarzen Kanälen verlorengingen. Nicht einmal ihren aktuellen Anlaß — die Übersiedlerströme — hat die schnelle Mark in der DDR beseitigen können. Bis heute siedeln täglich Bürger aus den neuen in die alten Bundesländer über und nicht etwa in umgekehrter Richtung. Die Investitionsströme gen Osten, deren letzte „Hemnisse“ durch die Blitz-Vereinigung beseitigt werden sollten — sie bleiben aus. Wer wird denn auch einen Pfennig in die marode, auf absehbare Zeit von Infrastrukturproblemen und Arbeitskämpfen belastete Ex- DDR tragen, wo sein Kapital auf der Bank zur Zeit 10 Prozent per annum abwirft, d.h. sich in 7 Jahren verdoppelt, ohne einen Handschlag und ohne jedes Risiko.

Wenn nach dem 2. Dezember die ersten Betriebsschließungen in den neuen Bundesländern bekanntgegeben werden, wenn Massenentlassungen und Streiks folgen und der seit einem Jahr künstlich beatmete Wirtschaftskreislauf zusammenbricht — dann könnte sich der schnelle Anschluß zwecks Wahlgewinn für Kohl als Pyrrhussieg erweisen. Denn so viele Steuern, wie er dann erhöhen muß, gibt es gar nicht — 1.000 Milliarden Mark, so ist ausgerechnet worden, wird die Vereinigung á la Kohl in den nächsten zehn Jahren kosten. Wie verzweifelt schon jetzt die Lage des Kohlschen Küchenkabinetts ist, zeigen die vergangene Woche gerüchteweise bekannt gewordenen Geheimpläne Bonns, den (knapp 14 Milliarden schweren) Goldschatz der Bundesbank zu verhökern. Man muß nicht Onkel Dagobert heißen, um einem solchen Kanzler allenfalls noch zwei Jahre zu geben...

Im bayerischen Fernsehen ein Kohl-Porträt. Der Schulfreund: „Helmut Kohl war immer der größte in der Klasse und immer unser Klassensprecher.“ Die Parlaments-Kollegin: „Ich wünschte mir, daß Franz Josef Strauß das noch sehen könnte — dies ist kein schwacher, sondern ein starker Kanzler.“ Der Kommentator: „Schon der Blick auf dem Kinderbild zeigt: das ist einer, der weiß, was er will.“ Aber was will er denn? Es gibt den alten Witz von dem Mann, der von der Schönheit einer Fee, die ihm drei Wünsche freigibt, so hingerissen ist, daß er antwortet: „Ich habe nur einen Wunsch, aber den dreimal!“ Kohl würde in dieser Situation dieselbe Antwort geben, allerdings mit dem Zusatz: „Bundeskanzler werden.“ Und wenn die Fee ihm heute, nachdem der Wunsch tatsächlich zum dritten Mal in Erfüllung gegangen ist, erneut erschiene, um dem Pfälzer Riesen drei Nachschläge zu gewähren, Kohls einziger Dreifachwunsch stünde wiederum fest: „Bundeskanzler bleiben.“ Kohl ist die Personifikation des „Weiter so!“.

Und eben deshalb haben die Deutschen am Sonntag eine gute Wahl getroffen: Es gibt kein besseres Rezept zur radikalen Veränderung des Bestehenden als genau so weiterzumachen, Kohl als Exponent der Ordnung des „Weiter so“ bürgt für maximales Chaos. Daß das Wahlvolk außerdem die Grünen abgewählt und die FDP kräftig gestärkt hat, ist kein Zufall, es zeugt von einem vielleicht unbewußten aber doch tiefgreifenden Verständnis der neuen Chaos-Theorien: nicht diejenigen, die das System bremsen, ökologisch im Zaum halten wollen, wurden gefördert, sondern die auf ungehemmtes Wachstum programmierte Einheizpartei der Liberalen. Statt die chemische Reaktion unter der globalen Klima- Glocke zu beruhigen, die Austausch- und Umschlaggeschwindigkeit zu reduzieren, das (natürliche) Gleichgewicht zu stabilisieren, haben sich die Wählerinnen und Wähler für das weitere Anheizen des Prozesses entschieden, für eine zunehmende Entfernung vom Gleichgewichtszustand, für den „Abstieg“ in die chaotische Turbulenz und die daraus erwachsende neue Ordnung. Offenbar in blindem Vertrauen auf den Chemiker und Nobelpreisträger Prigogine, der das Paradigma des gesamtdeutschen Wählerwillens — Ordnung aus Chaos — unter anderem anhand eines Wassertopfs erklärt hat: Solange es unten heißer ist als an der Oberfläche, wird die Wärme nach oben transportiert, das Wasser bleibt, nahe dem Gleichgewicht, ruhig und glatt. Verstärkt man nun die Temperaturdifferenz zwischen oben und unten, beginnen die heißen unteren Schichten an den kühleren und dichteren oben zu ziehen, es entstehen immer mehr Wirbel und Strudel, bis das System in völlige Unordnung kippt. Irgendwann aber wird ein kritischer Punkt erreicht, die Wärme kann nicht mehr ohne große Konvektionsströme transportiert werden — das System verläßt seinen chaotischen Zustand und geht in eine wabenförmige Struktur (Bnard-Zellen) und regelmäßige Schwingung über. In welcher Phase dieses Prozesses wir angelangt sind, ob die Temperatur in Teufels Küche noch eine neue Ordnung zuläßt, oder schon der Punkt erreicht ist, an dem das System erneut in ein Chaos stürzt, aus dem es sich nur durch den Sprung in neuen Zustand — die Verdampfung — retten kann, darüber streiten sich die Geister. Der Küchenchef Kohl an den Schalthebeln des Chaos macht Hoffnung, daß es bald zu einer (hoffentlich Vor-) Entscheidung kommt — und nach heftigen Turbulenzen zu einer umgebauten Industriegesellschaft, wie die Grünen sie als Trittbrettfahrer in Bonn nie erreicht hätten. Sie haben allen Grund, sich auf ein großes Comeback zu freuen — auf Müllawine, Abgaspest und Artensterben ist Verlaß. Ohne das Chaos auf dem Pelz zu spüren, sind wir höheren Affen offenbar nicht in eine neue Ordnung zu zwingen — das Alpha-Männchen aus Oggersheim ist der Garant, daß es so kurz und schmerzlos wie möglich wird.

CHAOSRULES—O.K.