„Nein zum Krieg“ bringt türkische Stasi in Rage

Im Golf-Frontstaat Türkei werden pazifistische Regungen rigoros unterdrückt/ Staatssicherheit fordert gegen 16jährige Schülerin 20 Jahre Haft wegen Antikriegsplakat/ Präsident Özal als Kriegstreiber/ Generalstabschef tritt aus Protest zurück  ■ Aus Istanbul Ömer Erzeren

Ein Nebenschauplatz der großen Weltpolitik, die sich um den Golf, um Saddam Hussein, um Bush, um Erdöl und den Kuwait dreht: Das Staatssicherheitsgericht Istanbul, zuständig für „Verbrechen gegen den Staat“. Doch auch hier in den Räumen des ehemaligen Leichenschauhauses geht es um Weltpolitik, um Krieg. Die sechzehnjährige Schülerin Nermin Alkan ist zusammen mit drei Freunden angeklagt. Sie hatte ein Antikriegsplakat in ihrer Schule aufgehängt: „Nein zum Krieg.“ Sofort informierte der Schuldirektor die Polizei. Die Gymnasiastin wurde von der politischen Polizei festgenommen und verhört. Seit rund zwei Monaten sitzt sie in Untersuchungshaft. 20 Jahre Gefängnis fordert der Staatsanwalt des Staatssicherheitsgerichtes gegen die Schülerin. Er will sie als Mitglied einer „illegalen Organisation“, als Mitglied der „revolutionären Gymnasiasten“ am Pendik-Gymnasium ausgemacht haben.

Prügelnde Polizei im Gerichtssaal

Der Vater, die Mutter und viele Mitschüler sind zum Prozeß gekommen. Als die 16jährige in den neonbeleuchteten Saal eintritt, dröhnt ein „Nein zum Krieg“ durch den Saal. Einer der dreißig Rechtsanwälte fragt den Richter: „Achtzig Prozent der türkischen Bevölkerung ist nach den letzten Umfragen gegen einen Krieg am Golf. Können Sie uns bitte sagen, wieso diese Schülerin, die diese Meinung öffentlich geäußert hat, seit zwei Monaten im Gefängnis sitzt?“

Während das Gericht berät — kein Räumungsbefehl ist ergangen — sind bereits Sondereinheiten von Polizei und Gendarmerie in den Gerichtssaal eingedrungen. Vor den Augen des schweigenden Gerichtes werden die Zuschauer mit Schlagstöcken traktiert und aus dem Saal gezerrt. Auch ein querschnittsgelähmter junger Mann, der auf seinem Rollstuhl im Gerichtssaal sitzt und eine Plakette mit der Aufschrift „Nein zum Krieg“ an seiner Brust trägt, entgeht der Prügelorgie nicht. Blutüberströmte Gesichter im Gerichtssaal. Selbst die in poltischen Prozessen hartgesotteten Rechtsanwälte haben die Beherrschung verloren. Roben werden auf den Boden geworfen. „So etwas gibt es nur in Polizeistaaten!“ Die Polizei hat erfolgreich den Gerichtsaal in ein Schlachtfeld verwandelt: Auch der Vater, die Mutter, ja selbst die Rechtsanwälte entkommen nicht der Prügelwut. Bilanz: Mehrere Verletzte, 50 Festnahmen.

Özal setzt auf Krieg

Dem Buchhalter Vedat Sümercan, der ins Fenster seines Büros einen Karton „Nein zum Krieg“ geheftet hatte, erging es besser. Er verbrachte nur drei Tage in Haft bei der politischen Polizei. Auch er ist wegen dem „illegalen Inschrift“ angeklagt, doch er ist auf freiem Fuß. „In spätestens 48 Stunden wird es Krieg geben“, hat der türkische Staatspräsident Turgut Özal am 8. August gesagt. „Die Landkarte des Nahen Ostens wird sich verändern“, frohlockte er am 28. August. „Wir haben genug Mut. Wir fürchten uns vor nichts. Seid auf einen Krieg vorbereitet“, hieß es am 8. September. Turgut Özal ist geradezu kriegsversessen und die Bevölkerung wird auf den Krieg — Seite an Seite mit den USA — eingepeitscht.

Verständlich, daß der nicht begonnene Golfkrieg in der Türkei seine Opfer fordert. Über die kleinen Opfer wie den Buchhalter Sümercan und die sechzehnjährige Schülerin berichten türkische Zeitungen am Rande. Doch da sind auch die „großen Opfer“: Der Rücktritt des Außenministers Ali Bozer am 11. Oktober, der Rücktritt von Verteidigungsminister Safa Giray eine Woche später und — vorgestern — der Rücktritt von Generalstabschef Necip Torumtay.

Wie eine Bombe schlug die Nachricht vom Rücktritt des Generalstabschefs in der Öffentlichkeit ein. „Ein Denkzettel an Özal“ lautete die Schlagzeile in türkischen Zeitungen. „Auf der einen Seite haben wir einen Staatspräsidenten, der im Fahrwasser der USA das Land in den Krieg treibt, auf der anderen Seite einen Generalstabschef, der einem blutigen außenpolitischen Abenteuer widersteht“, kommentierte die angesehene linksliberale Tageszeitung 'Cumhuriyet‘.

Zwischen dem Zivilisten Özal und dem General war es zu Auseinandersetzungen im Zuge der Golfkrise gekommen. Torumtay sprach sich gegen türkische Soldaten am Golf aus und kritisierte, daß die Regierung die Kriegskompetenz dem Parlament entzieht. „Die Armee erteilt Nachhilfeunterricht in Demokratie“, kommentierte die Tageszeitung 'Günes‘ nach Bekanntwerden des Rücktritts. Auf telefonische Weisung von Özal mußten die Militärs von einem Tag auf den anderen Übungen an der irakischen Grenze durchführen. Solche Befehle haben dem General wohl den Rest gegeben. „Wir brauchen Generäle, die Krieg führen“, soll Staatspräsident Özal seinen Generalstabschef angefahren haben. Jawohl — Generäle, die Krieg führen, Soldaten, die sterben, und Schüler, die „Hurra, es ist Krieg!“ schreien.