„Galinski ist uns über“ Jüdischer Jugendkongreß

■ Perspektive für die 90er Jahre gesucht

Die Zeit, in der die Juden in Deutschland auf gepackten Koffern sitzen, sich für eine Emigration in die USA oder Israel nicht entscheiden wollen, ein Verbleiben in Deutschland aber auch nicht rechtfertigen können, ist vorbei. Es gibt wieder Juden, die in Deutschland als Juden leben wollen, trotz Shoa und aller Nachkriegsverletzungen. Es sind nicht viele, in Ost und West zusammen nicht mehr als 30.000, die Mitglied in einer Gemeinde sind. Die meisten von ihnen leben in Berlin, Frankfurt oder München. Die Gemeinden haben im Prinzip überall die gleichen Probleme. Sie sind überaltert, und meistens sind die Kinder und Enkel der Überlebenden weder in den Gemeindevorständen noch in den Repräsentantenversammlungen ausreichend vertreten.

Warum dies so ist, und wie das Gemeindeleben aussehen müßte, damit wieder von einer jüdischen Zukunft in Deutschland geredet werden kann, war Thema eines Jugendkongresses in Berlin. Über 200 Jugendliche waren nach Berlin gekommen, einige von ihnen aus dem Ausland, um sich drei Tage lang anzuhören, was Prominente über „45 Jahre danach“ und die „Zukunft der jüdischen Gemeinden in den 90er Jahren“ zu sagen haben. Die Rollenverteilung war der Webfehler des Kongresses. Nicht ein einziger Jugendlicher saß während der Abendveranstaltung am vergangenen Sonntag auf dem Podium. Dem „Berufsopponenten“, wie Micha Brumlik aus Frankfurt sich selbst charakterisierte, blieb es überlassen, zu formulieren, wo der Schuh drückt.

„Glasnost und Perestroika“, sagte er, sind bei den Gemeinden noch nicht angekommen. Die etablierten Strukturen seien nicht dazu angetan, Jugendliche zum Mitmachen zu motivieren. Es fehle ein pluralistisches jüdisches Leben. Der Nachschock der Shoa, meinte Brumlik, habe dazu geführt, daß die Gemeinden eng zusammenrückten, daß Oppositions- und Reformbewegungen nicht als konstruktive Elemente, sondern als Bedrohung empfunden und unterdrückt werden. Viele engagierten Juden, meinte Brumlik „sind resigniert in die innere Emigration gegangen oder haben sich außerhalb der Gemeinden engagiert“.

Darauf zu antworten wäre Heinz Galinskis Aufgabe gewesen. Aber wieder einmal zeigte es sich, daß der 78jährige das Heft fest in der Hand hat. Mit keinem Wort äußerte er sich zur mangelnden innerjüdischen Demokratie. Er schaute nach vorn, forderte „neue Konzepte“, ein, „weil der politische Kurs in der Welt sich verändert habe“.

Die größte Herausforderung jüdischen Lebens in Deutschland sei jetzt und in den nächsten fünf Jahren die Zuwanderung aus der Sowjetunion, meinte Galinski. Heftig kritisierte er, daß einige Gemeinden „weder in der Lage, noch willens dazu seien“, diese Menschen aufzunehmen. „Unmöglich“ sei, daß nur Berlin das Gros aller Emigranten zu integrieren versuche — allein in den letzten fünf Jahren über 4.000. Gleichzeitig sei diese Zuwanderung „überlebenswichtig“ für die jüdischen Gemeinden, sagte Galinski „denn nur mit den Emigranten aus Osteuropa wird es jemals wieder ein lebendiges Judentum in Deutschland geben“.

Galinski fordert, daß sowohl der Einreisestopp für sowjetische Juden als auch die unselige Quotierungsdiskussion vom Tisch muß. An einer „Auswahl“ von Juden, die nach Deutschland kommen wollen, wird sich der Zentralrat der Juden nicht beteiligen. Denn „Auswahl“ ist, und das habe er, Galinski, in Bonn klargestellt, „nur ein vornehmes Wort für Selektion“. Die jüdischen Menschen aus der Sowjetunion sollen kommen, sagte Galinski. Entscheidend sei, ihnen zu helfen, „den Weg zurück ins Judentum zu finden“.

Galinski erhielt von den Jugendlichen für diese Zielsetzung sehr viel Beifall. Aber keiner von ihnen fragte nach, was es für sie bedeuten könnte, wenn die Strukturen der Gemeinden sich durch die Zuwanderung aus dem Osten völlig verändern. Die Jugendlichen durften sich an Positionen von oben abarbeiten, ohne die Chance zu einem internen Diskurs zu finden. So konnte sich Heinz Galinski immer wieder als der „jüngste“ und innovativste Teilnehmer profilieren.

Galinski ging zwar nie so weit wie Brumlik, der die (auch) synagogale Gleichberechtigung der Frau forderte. Aber er räumte zumindestens ein, daß, „wenn die Strukturen sich innerhalb der jüdischen Gemeinschaft durch die Neuzuwanderer verändern, solche Fragen diskutiert werden müssen“. Ein aktuelles Problem sei dieses „Reformjudentum“ noch nicht, aber „offene Türen“ würden alle bei ihm einrennen, die sich „engagiert für die Bevorzugung von Frauen in verantwortlichen jüdischen Positionen einsetzen“.

Entscheidend sei aber, das jüdische Bildungswesen zu verbessern. Jüdische Studenten sollten mit Stipendien motiviert werden, an der Hochschule für jüdische Studien in Heidelberg zu studieren.

Es war ein Jugendkongreß, der den Jugendlichen vom Establishment „geschenkt“ wurde. Vorläufig wird sich daran leider nichts ändern, resümierten Daniel und Sandra, Mitherausgeber der einzigen von Jugendlichen herausgegebenen jüdischen Zeitschrift in Deutschland mit dem schönen Namen 'Tachles‘: „Galinski ist uns allen über!“ Anita Kugler