Absturz und Anfang der Grünen

■ Über die Gefahr der grünen Ursprungsmythen Essay

In Zeichentrickfilmen gibt es jenen bekannten Lacheffekt: Jemand rennt über die Klippe, rennt noch ein Stück weiter, bemerkt das unter ihm nichts ist außer der Tiefe — sein Laufen wird langsamer und plötzlich stürzt er ab. So sind die Grünen weitergelaufen, als mit der deutschen Vereinigung der bundesdeutsche Boden wegbrach, bis zum bösen Absturz am Wahlsonntag. Zum Lachen war es nicht. Noch weniger kann gelacht werden, bei aller Lächerlichkeit, wenn Teile der Grünen durch Phantombewegungen über dem Bodenlosen weiterschweben sollen. Man muß ernstlich an der Zukunft der Grünen zweifeln, wenn der gemeinsame Absturz nicht einmal gemeinsam, sondern, um ein inzwischen veraltetes Wort zu benutzen, „strömungsspezifisch“ erlebt wird. Das Urteil des Wählers und vor allem jene 600.000 grüne Stimmen für Lafontaine lassen aber an Eindeutigkeit nichts zu wünschen übrig. Es war eben die Quittung für Politikunfähigkeit, für den luxurierenden innerparteilichen Hader, betrieben mit dem Ernst einer Kaderpartei, es war die Quittung für die Lähmung der politischen Produktivität (kleinbürgerlich als „Promis“ abqualifiziert), für die Herrschaft gesichtsloser Basisbürokratie. Abgewählt wurde eine Parteiorganisation, die sich in einem Strömungsstreit neutralisierte, in dem nichts mehr strömte; abgewählt wurde vor allem die Flucht in den Politikverzicht — was war es anderes als Politikverzicht, der Einheit die Klimakatastrophe entgegenzusetzen. Wollten die Grünen etwa eine gespaltene Nation, eine „geeinte Gesellschaft von unvorstellbarer Ungleichheit“ (Ullmann) mit der Apokalypse versöhnen?

Gegen die apokalyptische Verführung

So ist die Forderung der Abschaffung der Rotation, des Verzichts auf die ausgelutschte Linksideologie, der Reorganisation der Partei, die endlich fähig ist zur Tagespolitik, keineswegs eine Strömungsäußerung, sondern die aller elementarste Konsequenz aus dem Wahlergebnis. Genauso wie der bisherige Bundesvorstand zurücktreten müßte, da er schließlich zum guten Teil die Niederlage verantworten muß. Was Antje Vollmer und Joschka Fischer da benannt haben, ist nicht mehr und nicht weniger als den Anfang zu benennen. Angefangen werden muß bei dem Ort des Scheiterns, der Partei selbst, und nicht beim Anfangsmythos der Grünen. Die Partei hat versagt. Es gab keine durchsichtige innerparteiliche Demokratie. Und sie hat auch im Jahr der Einheit den politischen Einfluß nicht umsetzen können, den die Grünen durch ihre Mitarbeit auf allen Ebenen der Gesellschaft und Politik tatsächlich hatten. Aber schon wird weitergestrampelt über das bodenlose hinweg. Jutta Ditfurth und Manon Tuckfeld entlarven in der alten Sprache des Linksradikalismus die „Deckmäntel“ zur „Zerschlagung“ der grün-alternativen Kultur, gegen den „Rechtsruck“ und die bürgerliche Anpassung. Keine Frage, daß das Bewußtsein, das hinter dieser Sprache steht, historisch erledigt ist.

In diesem erneuten Flügelstreit wird nun als Heilmittel der Ursprungsmythos angeboten: Rückkehr zu den Anfängen, zur Bewegungspartei, zur außerparlamentarischen Opposition. Ganz abgesehen davon, daß es die Anfänge nicht mehr gibt — woran sollte sich eigentlich eine außerparlamentarische Opposition entzünden? Etwa eine Anti- AKW-Bewegung vor Greifswald, die eine Schließung der Kraftwerksblöcke nicht morgen, sondern sofort verlangt? Ein alternatives Dorf in Bitterfeld und Umgebung, das eine radikalere Sanierung verlangt? Der Protest einer Öko-Bewegung ist einfach uninteressant geworden gegenüber einer gesamtdeutschen Situation, in der es nur noch darum geht, wieviel Ökologie zu welchem Zeitpunkt finanzierbar ist.

Die außerparlamentarische Fiktion

Natürlich werden sich neue Kräfte im außerparlamentarischen Raum organisieren müssen. Die anhaltende Arbeitslosigkeit, die Zerstörung produktiver Kapazitäten durch die Treuhandanstalt, der realexistierende Stadtzerfall und die ganzen existentiellen Bedrohungen und Demütigungen in der östlichen Armut wird Proteste, Konflikte, Auseinandersetzungen auf der Straße mit sich bringen. Aber der gerade von einem Ex-SED-Bonzen entlassene Arbeiter von Hennigsdorf oder Böhlen wird bestenfalls die selbsternannten Freunde des außerparlamentarischen Kampfes aus dem Westen ignorieren.

Die Grünen waren nicht in der Lage, die neue soziale Realität und die Radikalität der Gesellschaftsveränderungen in diesem Jahr wahrzunehmen. Sie waren zu sehr in ihrem alternativen Klientelismus verstrickt, als daß sie die Angst des westlichen Wohlstands vor östlichem Elend oder die Demütigung östlicher Sanierungsbetroffener vor den westlichen Sanierern begreifen konnten. Vor allem aber: Die rot-grüne Perspektive war ein Projekt eines beispiellosen öffentlichen Reichtums, ein Projekt der untergegangenen Bundesrepublik. Wie Ökologie und chronische Haushaltsdefizite zusammengehen sollen, bleibt das ungelöste Rätsel des vereinigten Deutschlands

Jammern gilt nicht; hier, in der Realität eines großen Sieges der regierenden Koalition gilt es, die grüne Partei zu rekonstruieren. Und da ist die Situation offener als das Wahldesaster es suggeriert. Die CDU wird sofort unter die Widersprüche zwischen Ost-CDU und West-CDU geraten. Die Liberalen werden, aufgrund ihrer neuen Macht, an die ideolgischen Grenzen der Liberalität im Regierungsbündnis gelangen. Mit Lafontaine hat eine neue politische Generation, eine noch nicht existierende SPD einen Achtungserfolg errungen, mit dem die realexistierende SPD nichts anfangen kann. Und mit dem Wahlbündnis 90 und der PDS hat die Stimme der untergangenen DDR ein neues Gewicht. Die gescheiterten West-Grünen sind in der ironischen Situation, sich parlamentarisch von den Ost-Grünen und den Bürgerrechtlern vertreten zu sehen. Sie müssen es hinnehmen, daß diese auf eine spöttische und kritische Distanz gehen. Ullmann sprach — und das ist ein neuer Ton in der politischen Kritik — von der „Suppenkasper-Politik der Grünen“. Sie haben mit dieser gesamtdeutschen Ironie eine unverdiente Chance, die Chance nämlich, sich an einer Gruppierung reiben zu können, die ihnen nahe und fremd zugleich ist. Die vor allem eine lebendige Demokratievorstellung einbringt, eine erweiterte Demokratie des runden Tisches, die ohne die Links-Rechts-Begriffe auskommt. In der Auseinandersetzung mit den Bürgerrechtlern und Grünen aus dem Osten liegt die Zukunft der Grünen. Das Wahlbündnis 90/Grüne hat gestern nicht nur die Erstarrung des bundesdeutschen Parlamentarismus in ihrem ersten Auftritt kritisiert, sondern auch ziemlich deutlich gemacht, daß die Westgrünen von der praktizierten Demokratie des Ostens lernen können, von welcher Politik Erfolg zu erwarten ist. Denn die Parteibeziehungen stehen in einer noch ungeahnten dynamischen Position zueinander. In diesem Feld können sich die Grünen nicht mehr als Alternative konstituieren, sondern nur als zersetzende, bindende, Beziehung stiftende Kraft, als Ferment einer neuen Demokratie also, die mehr Realität in die Politik hineinläßt, als es das alte Parteienschema, das in dieser Wahl zum letzten Mal siegen konnte, erlaubt. Die Voraussetzung ist schlicht eine handlungsfähige grüne Partei. Wenn Jutta Ditfurth, jene Kommandeuse des Ökostalinismus, das gute alte Außerparlamentarische am Wahlabend beschwor, dann hat sie genau den Ton getroffen, den niemand mehr hören kann: den Ton der alten Bundesrepublik. KLaus Hartung