Plazet für Gorbatschows neue UdSSR

Der Oberste Sowjet stimmte Gorbatschows Entwurf eines neuen Unionsvertrages zu/Die Republiken sollen souveräne Staaten werden — allerdings ohne eigene Armee/Mehr Macht für Gorbatschow  ■ Aus Moskau Barbara Kerneck

Der Oberste Sowjet der UdSSR stimmte am Dienstag abend dem Entwurf eines neuen Unionsvertrages zu, den Michail Gorbatschow bereits am 24. November präsentiert hatte — jedenfalls „im Prinzip“. Auch eine erneute Erweiterung der Rechte des Präsidenten, die dieser selbst im gleichen Atemzug vorgeschlagen hatte, akzeptierte das höchste gesetzgebende Organ der Sowjetunion — „im Prinzip“. Die Konkretisierungen zur Neugestaltung der Macht müssen nun noch in verschiedenen Komissionen ausgehandelt werden. Das letzte Wort hat dann der „Kongress der Volksdeputierten“, der am 17. Dezember zwecks Verfassungsänderung zusammentreten soll.

Als Konzession an die nationalen Massenbewegungen soll vielen Sowjetrepubliken in der Präämbel die grundsätzliche staatliche Souveränität zugesprochen werden, außerdem werden die Freiwilligkeit ihres Beitritts zur Union sowie die Achtung der Menschenrechte und das gemeinsame Vorgehen gegen Diskriminierung von Minoritäten zum Hauptleitsatz der gemeinsamen Politik erklärt. Im Rahmen der „Föderalisierung der Macht“ sollen exekutive Vollmachten an den geplanten Föderationsrat delegiert werden. In vielen Sowjetrepubliken erblickt man jedoch darin leere Versprechungen, solange die Möglichkeit, eigene außenpolitische Verträge abzuschließen, nicht zugestanden wird. Doch dies ist offenbar ebensowenig vorgesehen wie Armeeeinheiten oder Sicherheitsorgane auf Republiksebene. Sogar die konservativen mittelasiatischen Regierungschefs brachten am Wochenende zahlreiche Einwände gegen den Entwurf vor. Die russische Föderation will ihm auf keinen Fall zuzustimmen. Die drei baltischen Staaten und Georgien behaupten zumindest nach außen hin, daß sie vorerst überhaupt keinem wie auch immer gearteten Unionsvertrag zustimmen wollen.

Zu einer Loslösung vom Zentrum fühlen sich nicht nur nationalistische, sondern auch liberal-demokratische Kräfte in den Einzelrepubliken getrieben, und zwar weniger durch die bislang nur auf dem Papier vorhandenen Unionsparagraphen. Als entscheidender Anstoß wirken hier die vom Präsidenten real angestrebte Machtfülle und die von ihm in den letzten Tagen praktizierte Personalpolitik zugunsten der Vertreter des militärisch-industriellen Komplexes. Wörtlich sagte Gorbatschow in seiner Rede am Dienstag abend:

„Eine prinzipielle Neuerung drückt sich darin aus, daß von heute an die exekutive Macht in der Union in den Händen des Präsidenten konzentriert sein wird. Dies bedingt die Umwandlung des heutigen Ministerrates in ein Kabinett von Ministern, das dem Präsidenten unterstellt sein wird. Die alltägliche Leitung des Kabinettes wird ein Premierminister vollziehen, der vom Obersten Sowjet bestätigt wird, gemäß dem Vorschlag des Präsidenten. Die Minister werden vom Präsidenten nach Abstimmung mit dem Obersten Sowjet benannt, dabei wird auch die Meinung des Unionssowjets in Betracht gezogen. Das Kabinett ist dem Präsidenten und dem Obersten Sowjet der UdSSR verantwortlich — auf diese Weise wird eine der wichtigsten Funktionen des Obersten Sowjet realisiert — die Kontrolle über die Tätigkeit der exekutiven Macht.“

Gerade die ungenaue Definition der Vollmachten des Parlaments als „beratend und zustimmend“ kritisierten am Dienstag in den Korridoren des Obersten Sowjet liberale Abgeordnete wie der Vorsitzende der Menschenrechtskomission Fjodor Burlazkij. Praktisch nach dieser neuen Variante, verfuhr Gorbatschow bereits zu Beginn dieser Woche bei den Neubesetzungen des Postens des Innenministers und von dessen Stellvertreter, die im Parlament weder rechtzeitig angekündigt noch diskutiert wurden. Ins Auge fällt die geplante Wiedereinführung des Ministerpräsidentenpostens durch die Hintertür, der vor vierzehn Tagen praktisch für abgeschafft erklärt worden war. Ergänzt werden soll er jetzt durch einen Vizepräsidenten, als dessen Aufgabe es Gorbatschow bezeichnete, „rechte Hand des Präsidenten“ zu sein und die neugeplante „Staatskontrollkomission“ gegen Korruption zu leiten.