Massentrieb in Kreuzberg

Foto: David Baltzer

Wasser fließt. Undurchsichtige Dämmerung. Ein archaischer Raum - halb Dunkel, halb Moloch -, bestückt mit Maschinen und Gerät, bestellt mit Stroh, wartet auf seine Opfer. Die Premierengäste im RA.M.M.- ZATA stehen etwas unsicher zwischen den Dingen. Und warten.

Das Spiel beginnt: „Sie wollen also eine Hypnose erleben ... erleben ... Hypnose erleben ... leben ... leben ...“, dröhnt es aus den riesigen Boxen über den Köpfen der Zuschauer. Aus dem Dunkel erscheint eine mystische Gestalt und erleuchtet zum ersten Mal die Spielstätte mit einer brennenden Fackel, um das erhellende Licht gleich wieder dem plätschernden Wasser im Mittelpunkt der Bühne zu opfern.

Damit beginnt eine zweistündige theatrale Orgie, die nichts ausläßt, die niemanden schont, nicht die Schauspieler und auch nicht das Publikum. In wilder Raserei, immer nahe an der Ekstase, tobt RA.M.M. durch die Räume der Welt- und Menschheitsgeschichte und durch unsere Phantasie.

Über lange Strecken bleiben die Zuschauer - ratlos gegenüber der Besessenheit - ihrer eigenen Assoziationskraft überlassen. Doch dann überschreitet die unanschauliche Vision für Sekunden die Grenze zur Gegenständlichkeit. Aus dem vermeintlichen Nichts entstehen blitzartig deutliche Bilder. Hypnose ?

Massentrieb - die neue Produktion des RA.M.M. theaterart Berlin ist furioses Avantgarde-Theater. In fulminatem Tempo jagen die Schauspieler durch das Stück. Die Wildheit feiert neue Urstände, die schrillen Klanggebilde sind souveräne Kunstwerke, oftmals ausgereizt bis an den Rand der Schmerzgrenze. In Verbindung mit dem sprachlosen Schreien der fell-behangenen Akteure entsteht eine Welt, jenseits aller Zeit, jenseits jeden Ortes.

Perfekt kalkuliert treiben die RA.M.M.- Leute uns von einer Ecke unseres Innenlebens in die nächste. Die Zuschauer werden getrieben wie Herdenvieh. von einem Spielplatz zum nächsten ziehen wir Schauenden durch den Raum. Die einen eng an die Wand gedrückt, in gebührendem Abstand zum wasserspritzenden, schwehlbrennenden Bühnenakt, immer Eingedenk der Warnung vom Eingang: „Sie befinden sich hier auf eigenes Risiko“. Mutiger die Voyeure der ersten Reihe, die mitagierend immer wieder unabsichtlich im ständig wechselnden Aktionsraum stehen und so Nähe herstellen zwischen den ungezügelten Halbnackten und den Zivilisationsbekleideten.

»Massentrieb« beschreibt nicht etwa das Grauen kulturloser Vorzeiten, sondern inszeniert das Entsetzen unserer Tage.

Agression, Gewalt, Sexualität bestimmen die Szene, eingestreute Alltagsbilder wie »Verkehrsstau«, »Rockkonzert«, »Hooligans« verweisen auf den Zirkel, in dem wir uns befinden: Aus dem Chaos kommend, auf Krieg und Zerstörung ausgerichtet, mündet alles Streben des Menschen - unwiederruflich ? - zurück in die Herrschaftslosigkeit des Nichts.

Die SchauspielerInnen, die unter Aufbietung aller Kräfte Schwerstes leisten müssen, brillieren an diesem Abend. Kaum jemand im Publikum kann sich ihrem Spiel entziehen, das immer wieder die Mauer zwischen Akteur und Voyeur einreißt. Ihre zur Schau gestellte Unbändigkeit ist wohlkalkuliert und zugleich drastisch.

Es ist der hervorragenden inszenatorischen Arbeit des RA.M.M. Theaters zu verdanken, daß »Massentrieb« nicht im vorgeführten Chaos versinkt, sondern trotz aller Entfesselungen klare Argumentationslinien erkennen läßt. Avantgarde vom Feinsten. Klaudia Brunst

Das RA.M.M. Theater veranstaltet seinen »Massentrieb« Montag, Dienstag, Freitag und Samstag um 20.30 Uhr im RA.M.M.-ZATA noch bis zum 31.Dezember.