Rosenbiß auf dem Schemelturm

■ Ein chinesischer Staatszirkus auf der Bürgerweide / Obersensationell

“Warum ist der eigentlich nicht Weltrekordler?“ fragt eine neben mir im Zirkuszelt auf der Bürgerweide. Nach ein paar spektakulären Kopfsprüngen durch den obersten von drei aufeinandergesteckten Reifen macht Yan Zhicheng Ernst. Reifen Nummer vier und fünf werden auf den übrigen befestigt, und der Mann stürmt heran. Einige schnelle Schritte, ein Flic-Flac, und schon katapultiert er seinen Körper in eine unglaubliche Höhe. Der Sprung mißlingt. Der Krach der herabstürzenden Reifen vermischt sich mit den entsezten Aufschreien der Premierengäste, doch passiert ist nichts.

Der Chinesische Staatszirkus ist in Bremen. Natürlich schafft Herr Zhicheng den Kopfsprung in 2,50 Meter Höhe im dritten Versuch. Jeder Schritt, jede Bewegung wirkt so sicher und präzise, daß sogar kleine Fehlversuche wie geplant wirken. Bereits im Kindesalter werden die zukünftigen Künstler in Zirkusschulen auf ihren späteren Beruf vorbereitet. Um es wie 15 der Akrobaten, die diesmal dabei sind, bis zur 2. oder gar 1. Klasse, dem höchsten Qualitätsgrad, zu bringen, braucht es jahrelange Arbeit. Das bestätigt auch Regisseur Dai Shulin. Wenn genug hochqualifizierte Artisten bei einem Zirkus beschäftigt sind, erhält das Unternehmen das Prädikat „Staatlich“.

Das Programm des bis zum 16. Dezember gastierenden Chinesischen Staatszirkus ist ein pausenloses Feuerwerk einmaliger Sensationen, da verspricht das Hochglanz-Programmheft nicht zuviel. Jonglagen auf dem Einrad sind nicht neu, aber wer balanciert das knapp zwei Meter hohe Rad schon auf einer großen Kugel? Herr Dai Chunsheng muß dabei auch noch mit einem Fuß Geschirrteile auf seinen Kopf kicken.

Mijnheer van der Meyden vom niederländischen Veranstalter „Stardust Produktie“ erklärt die Sensations-Inflation. „Die Europäer kennen doch schon alles. Die wollen Höchstleistungen, sonst kommt keiner“. Regisseur Dai Shulin sagt: „Tiere haben wir gar nicht erst mitgebracht, die zeigen wir lieber dem chinesischen Publikum. Hier in Europa sind die traditionellen chinesischen Akrobatiken gefragt, und die kommen auch Schlag auf Schlag.“

Da biegt eine Dame ihren Kopf in schwindelerregender Höhe auf einem asymmetrischen Schemel- Turm schlangengleich zu den Hacken zurück und beißt dabei auch noch lustvoll in eine Plastikrose. Es folgen Trapeznummern an Schwungseilen und 13 Menschen auf einem Fahrrad. Und doch bleibt dieser HöhepunktZirkus seltsam steril. Er besitzt nicht das bezaubernde Flair einer Heller'schen Inszenierung aus dem vergangenen Jahr oder das warme Charisma von Roncalli. Statt dem Zirkusorchester spielt eine Tonbandmaschine, und in der Pause gibt's Chips und Bier.

Dennoch, Dai Shulin versichert, daß die ArtistInnen die abendländischen Irritationen verkraften und sogar das in China unübliche Mitklatschen als Unterstützung begrüßen. Sportliche Weltrekorde sind ihnen egal. Yan Zhicheng, der Springer, dazu im Fernsehen: „Das will ich einfach nicht“. Jürgen Francke