Nach der Wende zu den Wurzeln zurück

■ Reaktionen der AL-Stadträte auf eine rot-schwarze Regierung in der Stadt/ Gerüchte über Sparmaßnahmen in Höhe von 22,3 Prozent/ Während einige Stadträte Rückschritte in ihrer Arbeit befürchten, gehen andere cool mit dem Regierungswechsel um

Berlin. Auch wenn sie im Senat nun nichts mehr zu sagen haben — als StadträtInnen für Gesundheit, Bau oder Volksbildung regieren VertreterInnen der Alternativen Liste zumindest in den Westberliner Bezirken weiter. Weht ihnen unter einer voraussichtlich rot-schwarzen Landesregierung ein eisigerer Wind entgegen?

Dirk Jordan, Volksbildungsstadtrat in Kreuzberg, ist bei dem Gedanken an eine große Koalition im Senat nicht sonderlich wohl. Er befürchtet, daß die Idee der Stabilisierung dieses ungeliebten Bezirks nun unter die Räder kommt und die derzeit laufenden Schulprojekte doch noch gestrichen oder zumindest verzögert werden. Möglicherweise, so Jordan, passe auch die bislang in seinem Bezirk angestrebte Grünflächenerhaltung nicht mehr in eine rot- schwarze Hauptstadtplanung. Ebenso sei die auch von SPD-Innensenator Pätzold vertretene Linie, mehr Rechte und Kompetenzen in die Bezirke zu verlagern, nun wieder fraglich geworden.

Die drei Gesundheitsstadträtinnen in Charlottenburg, Tiergarten und Wedding sind sich relativ sicher, daß ihnen die SPD-Gesundheitssenatorin Ingrid Stahmer erhalten bleibt. Doch nicht alle drei sind davon durchweg begeistert. Sabine Nitz- Spatz (Tiergarten) konnte schon in den letzten Monaten »nicht allzuviel Dynamik« in der Gesundheitspolitik der Senatorin erkennen und vermutet nun, daß Stahmer sich auch hinsichtlich der Polikliniken der CDU anschließen und nicht weiter um deren Erhalt kämpfen wird.

Zu einer anderen Einschätzung kommt hingegen die Weddinger Gesundheitsstadträtin Dorothee Salje- Rygg, die die Informationspolitik der Senatorin ohnehin als »vage und unstrukturiert« empfand und jetzt meint, es könne »nur noch positiver werden«. Ihr fehlt es vor allem an flankierenden Maßnahmen für die durch die Verlagerung des Rudolf- Virchow-Krankenhauses entstandenen Defizite in der medizinischen Versorgung. Ebenfalls unklar ist für Salje-Rygg nun, ob unter Rot- Schwarz die Prämisse »ambulant vor stationär« möglicherweise wieder gekippt wird.

Salje-Rygg teilt jedoch auch an die eigene Partei kräftig aus: Die AL habe sich in den letzten beiden Jahren viel zu sehr mit sich selbst statt mit Sachthemen befaßt. In dieser Zeit hätte die Partei sehr wohl über politische Programme nachdenken und sie in einer Koalition durchsetzen können. Annette Schwarzenau, Charlottenburger Gesundheitsstadträtin, reagierte auf das Wahlergebnis gewohnt resolut und empfahl der Partei, dorthin zurückzukehren, woher sie kam: in den Kiez, zu den Problemen vor der eigenen Haustür.

Für »absolut fatal« hält Schwarzenau nur eins: wenn die Ressorts Gesundheit und Soziales auf Senatsebene künftig getrennt würden. Gerade bei alten Menschen sei der Übergang von gesund zu krank fließend, Aidskranken und Behinderten dürfe diese zusätzliche bürokratische Hürde nicht zugemutet werden. In den Bezirken selbst sei es schon schlimm genug, daß dem Ressort Gesundheit nicht Soziales, sondern Umwelt zugeordnet sei.

Das sieht Udo Bensel, AL-Stadtrat für Gesundheit und Wirtschaft in Steglitz, etwas anders: Als Verfechter der Dezentralisierung von Umweltschutzaufgaben fürchtet er, daß die jüngst geplanten, je vier zusätzlichen Stellen in den bezirklichen Umweltämtern nun wieder flötengehen. Im übrigen werde das Geschäft für AL-Stadträte unter Rot-Schwarz wieder leichter, weil man jetzt die Senatsverwaltungen »ungehemmter kritisieren« könne.

Michael Wendt, Jugendstadtrat in Neukölln, ist während der Dauer seiner Amtszeit ohnehin an eine große Koalition gewöhnt. Der Modellversuch, die einzelnen Bezirke eigenständiger wirtschaften zu lassen, sei wegen der angekündigten Sparprogramme wieder aufgehoben worden. Insofern, urteilt Wendt lakonisch, habe die von Rot-Grün anvisierte Dezentralisierung sowieso kaum stattgefunden. Sorgen bereite ihm allerdings, daß der neue Senat den Geldhahn für den Kitabereich und die jüngst ausgedehnten Streetworkerprogramme wieder zudrehen könnte. Denn — und darauf verwiesen auch andere AL-Stadträte — noch »unter den Genossen« habe Finanzsenator Meisner erhebliche Leistungsrücknahmen »ausgebrütet«. Das könnte allerdings alle Bereiche auf Bezirksebene empfindlich treffen: Für 1992, so geistert das Gerücht unter den Finanzstadträten, sei für die Bezirkshaushalte eine Sparquote von 22,3 Prozent vorgesehen. maz