Gegen die linke Unverdrossenheit

■ Der Dialog disparater Lebenswelten oder die letzte Chance der Linken DEBATTE

Wirkliche Ereignisse sind nicht vorhersehbar. Von außen brechen sie in bestehende Systeme — gleich ob realgesellschaftliche oder diskursive — ein und verändern mit einem Schlag die Koordinaten des Verstehens und Deutens. Ob nun die Implosion des Sowjetimperiums und des realsozialistischen Blocks in der Weise, wie sie sich vollzog, wirklich vorhersehbar war oder nicht, bezogen auf den theoretischen Zusammenhang, der in der Bundesrepublik im weitesten Sinne unter dem Firmenschild „links“ segelt(e), fungierte diese Implosion genau in jenem Sinn als Ereignis. Die Linke — das Wort benutze ich im folgenden nur in Ermangelung eines besseren, um jene Gruppe von Menschen zu bezeichnen, die sich bemühte und bemüht, die libertären und bürgerrechtlichen Traditionen in den Zusammenhang der Frage nach Gerechtigkeit zu stellen — ist sprachlos. Ihr begrifflicher Apparat funktioniert nicht mehr. Angesichts der Melange aus radikalliberalistischen, nationalistischen und bürgerrechtlich- ökologischen Konzeptionen, die aus Osteuropa überschwappen, erweisen sich die alten Parameter von Fortschritt, Aufklärung, „links“ und „rechts“ als hoffnungslos veraltet. Selbst die ausgedünnten sozialbürokratischen Konzeptionen der SPD scheitern an der Sozialismusmüdigkeit in der östlichen Hälfte Europas.

Dabei denke ich, daß es sich hier weniger um eine Frage semantischer Brauchbarkeit eines in hohem Maße realpolitisch korrumpierten Begriffs handelt, sondern vielmehr um eine ganz grundlegende theoretische Außerkraftsetzung der Vorstellung handelt, man könne Gesellschaftlichkeit machen. Mit dem Wegfall der Chiffre „Sozialismus“ als, wenn auch problematisches, Zeichen der Wiedererkennung und Selbstvergewisserung wird auf einmal sichtbar, daß in der Linken eine babylonischen Sprachverwirrung herrscht. Begriffe wie Freiheit, Demokratie, Fortschritt, Zivilgesellschaft und selbst Marktwirtschaft (von Kapitalismus ganz zu schweigen) sind unterschiedlichsten Deutungen zugänglich und stiften eben deshalb auch nicht im Ansatz einen Konsens, also eine neue Sprache.

Gesucht: eine neue verbindliche Sprache

Dabei ginge es für die Linke genau darum. Die einzige theoretische Sprache der Politik, die augenblicklich ungebrochen zu funktionieren scheint, ist die des nationalistischen Diskurses. Das geht soweit, daß selbst klassisch universalistische Argumentationen zu Demokratie und individuellen Freiheitsrechten mit nationalen Argumentationen aufgeladen werden (bei Dahrendorf etwa), ohne daß ersichtlich wäre, was das Nationale nun an zusätzlicher Präzisierung des Begriffs Demokratie beisteuern würde. Verstellt wird das Problem auf seiten der Linken durch eine moralisierende Diskussion um Schuld und Unschuld, um Verlust oder Nicht-Verlust der Utopie. Darum geht es ebensowenig wie darum, „Intellektuellen, die nur noch Ideen produzieren“, ihre bal- digste gesellschaftliche Isolierung zu prophezeien und zu wünschen. Sei's drum, der Appell ans „Packen wir's an“, ausgesprochen zudem aus einer angemaßten Schiedsrichterposition, ist gleichermaßen blind gegenüber wesentlichen Fragestellungen für die politische Kultur der Zukunft wie jene Nostalgiker eines wahren Sozialismus, die meinen, ein Trotzki — oder von mir aus ein Dubcek — seien der Rettungsanker der Idee im allgemeinen. Wenn das Problem wirklich darin besteht, eine neue, möglichst verbindliche Sprache zu finden, in der sich die Gesellschaft nicht-autoritär und nicht-nationalistisch darüber verständigen kann, wie sie Zukunft gestalten möchte, dann kann es gar nicht genug Ideen geben.

Im Angesicht einer gesellschaftlichen und sozialen Entwicklung, die man mit Namen wie „Unübersichtlichkeit“ zu beschreiben versucht hat, wäre es angebracht, die Linke versuchte, um eine alte Formulierung zu verwenden: ihr Scheitern auf den Begriff zu bringen und daraus Folgerungen zu ziehen. Ohne diesen Akt der Selbstbesinnung wird jedes Handeln nichts weiter als leere Emsigkeit sein — getragen von einer Theorie- und Intellektuellenfeindlichkeit, die sich bestens in den Zusammenhang jener trüben nationalen Metapher einschreibt, die alle Differenzierungen und Gliederungen von Gesellschaftlichkeit im Einen aufzulösen trachtet. Der Gegenbegriff wäre „Zivilgesellschaft“, der allerdings des Nachdenkens bedarf, soll er nicht zur leeren Chiffre verkommen. Aus der Sicht der Bundesrepublik bedeutet er m.E. Den Versuch, auf die libertären und individualistischen Tendenzen von '68 zurückzugreifen, ohne sie gleich in die Psycho-Ecke zu schieben; und von hier aus weiter in die Vergangenheit zurück den klassischen Liberalismus zu befragen auf trag- und konsensfähige Perspektiven bei der Definition dessen, was man als die universalen Menschenrechte bezeichnen könnte, also jene Rechte, die das Individuum wirklich als unübersteigbaren Horizont von Politik anerkennen.

Zivilgesellschaft wäre dann zunächst einmal jener öffentliche, von den politischen Apparaten und der Wirtschaft unabhängige und ihnen gegenüber zu schützende Raum, in dem der Einzelne überhaupt die Möglichkeit einer Konstitution als politische Person erhält. Für die Linke, die immer die Idee eines Kollektivsubjekts (vom Klassenkampf bis zum Sieg im Volkskrieg) bevorzugt hat, bedeutete das tatsächlich den Bruch mit liebgewordenen Gewohnheiten. Sie sollte ihn nicht scheuen, denn deutlich tritt im Zusammenbruch des Realsozialismus hervor, wie sehr jene Kapitalismuskritik, die im Namen von gesellschaftlichen Kollektivsubjekten, also Klassen oder Gruppen, die Macht und ihre Ausübung durch irgendwelche anonymen Übersubjekte kritisierte, nichts als das — kritische — Spiegelbild der sogenannten stalinistischen Kommandowirtschaft war. Selbst als Kritik kann diese Denkfigur zu nichts anderem als der Relativierung der Menschenrechte im Namen einer höheren Wahrheit führen — und das ist letztlich der Keim der Diktatur. Die neoricardianischen Ökonomen der Cambridge-Schule haben, etwas plakativ, aber im Kern wohl zutreffend, davon gesprochen, daß dem heutigen Kapitalismus ein großes, gleichermaßen integrierendes wie integriertes Projekt wie in der Vergangenheit fehle. Sie nennen die Eisenbahn und das Auto.

Die Unwägbarkeit des Individuums

Im Gegensatz dazu sind die Neuen Technologien hochgradig dispersiv, fördern an vielen Punkten die Dezentralisierung und schaffen dadurch etwas, das man die materielle Grundlegung eines modernen Individualismus nennen könnte. Jedermann ist klar, daß die meisten ökologischen Probleme nicht nur und nicht in erster Linie Systemfragen sind, sondern Fragen nach der billigenden Inkaufnahme durch den Einzelnen. Dem dadurch natürlich auch eine größere Verantwortung zufällt. Zivilgesellschaft in diesem Kontext würde also bedeuten, die gesellschaftliche Verfaßtheit in jeder Hinsicht an der Möglichkeit zur Wahrnehmung dieser individuellen Verantwortung zu messen und ihr, wenn nötig, auch neue Bewegungsformen zu erkämpfen. Wobei zwei Punkte schon jetzt klar sein sollten: Erstens kann es nicht, wie unsere systemtheoretisch geschulten Reformer gerne möchten, um eine Verregelung der individuellen Äußerungen gehen. Immer, wenn das Individuum ins Spiel kommt, kommt damit auch etwas Unwägbares ins Spiel. Das übersteigen zu wollen, kann nicht Sache von Menschen, sondern höchstens von Gott sein. Zweitens sind die Felder, in denen sich diese individuelle Verantwortung äußert, untereinander disparat, ja, wie es scheint, nicht übersetzbar.

Ob es für die Linke eine Zukunft gibt, wird davon abhängen, ob sie es vermag, die Übersetzbarkeit dieser disparaten Erfahrungen zu gewährleisten, ohne sie in einem abstrakt normativen Universalismus aufzulösen. Der Appell ans reine Tun, die Beschwörung des „intelligenten Eingreiftrupps“ (nomen est omen kann ich angesichts des unverhohlenen Militarismus der Formulierung nur sagen), ist diesem Problem gegenüber blind: Die Linke wird der Versuch sein, jenen Dialog disparater Lebenswelten herzustellen, ohne Totalisierung, ohne Norm und Regel, in Anerkenntnis der unauflöslichen Fremdheit des Anderen, oder sie wird nicht sein. Ulrich Hausmann