Italien: Fallen alle Gladio-Schleier?

Regierung gibt „Staatsgeheimnis“ auf und publiziert die Liste der „Gladiatoren“/ Staatspräsident Cossiga Hauptbetroffener/ Drei Kommissionen sollen Verfassungsmäßigkeit und „Abirrungen“ überprüfen/ Ausland muß weitere Enthüllungen fürchten  ■ Aus Rom Werner Raith

Noch am Mittwoch schien alles seinen gewohnten Verschleierungsgang zu gehen: Staatspräsident Cossiga versicherte, zum Entsetzen aller ausgerechnet vor einer Versammlung der zur Aufrechterhaltung der konstitutionellen Ordnung berufenen Carabinieri-Armee, daß die geheime, durch keinerlei Parlamentsbeschluß gestattete Nato-Struktur Gladio „notwendig, sinnvoll und opportun“ gewesen sei und solidarisierte sich erneut mit den „Gladiatoren“. Ministerpräsident Andreotti, Christdemokrat, hackte wütend auf dem sozialistischen Finanzminister Formica herum, der erklärt hatte, die „bis an die Zähne bewaffnete Geheimarmee“ sei verfassungswidrig gewesen und „eine Gefahr für die Demokratie“.

Doch dann kam am Donnerstag eine unvermutete Wende. Statt des erwarteten Hinauswurfs Formicas heftete Andreotti die Sache als „Mißverständnis“ ab — und ließ seinen sozialistischen Stellvertreter Claudio Martelli erklären, daß nun sowohl die Verfassungsmäßigkeit von Gladio wie mögliche „Abirrungen“ von Teilen desselben gleich von drei Kommissionen überprüft werden sollen: erstens von einem „Weisenrat“, bestehend aus dem derzeitigen Präsidenten des Verfassungsgerichts und seinen vier Vorgängern; zweitens von der Parlamentskommission zur Untersuchung der Bombenattentate und des Terrorismus und drittens von der Geheimdienst-Kontrollkommission (vor der auch Staatspräsident Cossiga in seiner Eigenschaft als ehemaliger Kanzleramtsminister, Innenminister und Ministerpräsident in der nächsten Woche aussagen muß).

Für das Staatsoberhaupt ist insbesondere die Einrichtung des „Weisenrates“ eine schwere Ohrfeige, hatte er doch stets die Legitimität von Gladio als über jeden Zweifel erhaben dargestellt. Sollten die „Weisen“ zu einem anderen Schluß kommen, bleibt Cossiga, der selbst Verfassungsrechtler ist, nur noch die Demission.

Von international möglicherweise noch größerer Bedeutung ist jedoch ein zweiter Beschluß des Kabinetts: die Aufhebung des von Andreotti und anderen Ministerpräsidenten in der Vergangenheit und auch noch vor wenigen Wochen verhängten „Staatsgeheimnisses“ über Gladio und zahlreiche bisher streng gehütete Untergrundvorgänge im Zusammenhang mit Putschvorbereitungen und rechts- wie linksextremistischen Terroranschlägen. Veröffentlicht werden soll kommende Woche die Liste der 622 „Obergladiatoren“, die als Zonenbosse fungierten und im Notfall mehrere tausend Guerillas aktivieren konnten. Aber auch das Verzeichnis der Besucher der Ausbildungsstation bei Alghero auf Sardinien soll veröffentlicht werden. Mit diesen Publikationen werden automatisch auch zahlreiche Schleier von Verbindungen Gladios zu analogen ausländischen Einrichtungen fallen — womit auch die Geheimdienste der anderen Länder mit erheblichem Erklärungsbedarf konfrontiert werden dürften.

Über die Motive des Sinneswandels der Andreotti-Riege gibt es bisher nur Spekulationen. Die wahrscheinlichste ist, daß nun — entgegen den bisherigen Solidaritätsbekundungen — das Amt Cossigas doch in nächster Zeit zur Disposition stehen soll (an sich wäre 1992 die Neuwahl fällig). Dann könnte es nach der von den Sozialisten für Januar angestrebten Regierungsneubildung oder den für Frühjahr geplanten vorgezogenen Parlamentswahlen auch noch in den allgemeinen Postenschacher einbezogen werden.