Elemente des Horrorfilms

Vergewaltigung in der Presse/ Bei der Berichterstattung dominiert der sensationsgeile Blick/ Channel Four hat zehn große britische Zeitungen unter die Lupe genommen/ „Sex and Crime“ in allen Blättern  ■ Aus London Ralf Sotscheck

Eine geile Vergewaltigungsstory ist immer für eine Auflagensteigerung gut — nicht nur bei Boulevardblättern. Auch die seriösen Zeitungen greifen gern auf die verkaufsfördernde Mischung aus Verbrechen, Sex und Gewalt zurück. In der Sendereihe Hard News des unabhängigen britischen Fernsehsenders Channel Four wurde vergangene Woche die Berichterstattung über Vergewaltigungen in den zehn größten britschen Tageszeitungen unter die Lupe genommen.

In den ersten sechs Monaten dieses Jahres erschienen 644 Berichte zu diesem Thema — das sind mehr als vier pro Tag, obwohl Sexualdelikte in der Verbrechensstatistik weniger als ein Prozent ausmachen. Kaum überraschend liegt die 'Sun‘ — Englands Entsprechung zu 'Bild‘ - mit 87 Artikeln an der Spitze, dicht gefolgt vom 'Daily Telegraph‘, einem „quality paper“. Am Ende der Statistik liegt die 'Times‘ mit immer noch 40 Artikeln. Hauptanteil an der Berichterstattung haben die Gerichtsberichte. Die 'Times‘ und das Boulevardblatt 'Today‘ sind allerdings die einzigen Zeitungen, die sämtliche Fälle, über die sie berichtet hatten, auch bis zum Urteil weiterverfolgten. Die anderen Zeitungen verloren oft das Interesse, nachdem sie die Tat in allen Einzelheiten beschrieben hatten. Am schlechtesten schneidet hier ausgerechnet der 'Guardian‘ ab: in 37 Prozent der Fälle wurde das „Verfahren fortgesetzt“, ohne daß die LeserInnen jemals wieder davon hörten.

Über ein Urteil berichteten jedoch alle Zeitungen. Im April stellte Richter Raymond Dean zukünftigen Vergewaltigern einen Freibrief aus. „Wenn Frauen nein sagen, meinen sie nicht immer nein“, erkannte er und sprach den Täter, einen Geschäftsmann, frei. Schließlich hätten Täter und Opfer vor der Tat gemeinsam Cannabis geraucht.

Auch der Fall eines Polizisten fand das Interesse aller Zeitungen. Er hatte eine Frau, die er wegen Alkohols am Steuer verhaftet hatte, in der Arrestzelle vergewaltigt. Freilich war die Frau in den Augen der 'Sun‘ und des 'Daily Star‘ selbst schuld: beide Blättern beschrieben in lüsternem Tonfall den genauen Tathergang, hoben dabei vor allem die Trunkenheit des Opfers hervor — „bad woman“ bekam, was sie verdiente, war der Tenor. Der Grund für den Alkoholkonsum, ein Todesfall in der Familie, verschwiegen beide Zeitungen geflissentlich.

Ebensogut verkaufen sich Vergewaltigungen, wenn der Täter ein gesichtsloser Fremder ist, der Horror verbreitet. Bei 'Today‘ war dies in knapp 90 Prozent der Berichte der Fall. Statistiken des Innenministeriums beweisen dagegen, daß der Vergewaltiger in fast zwei Dritteln aller Fälle ein Bekannter der Frau war. Simons Jenkins, Herausgeber der 'Times‘, sagte dazu: „Es gibt ein Element des Horrorfilms in den Zeitungen, und ich befürchte, Vergewaltigungen sind dieser Horrorfilm in den Zeitungen. Und es ist der Fremde als Täter, der diesen Horror noch verstärkt.“

Lorraine Heggessy und Jacqui Webster von der Redaktion Hard News bei Channel Four sagen, daß die Presse die überdurchschnittliche und sensationsgeile Berichterstattung über Vergewaltigungen als Möglichkeit betrachtet, Sex in ihren Blättern unterzubringen: „Die Ereignisse, die dem Verbrechen vorausgehen, werden oft in einer Sprache beschrieben, die eher zu einem Liebesroman paßt“, sagen die beiden Frauen. „Die Geschichten klingen, als sei bei einem normalen Flirt plötzlich etwas schiefgegangen.“ In ihrem Film wollen sie jedoch deutlich machen, daß Vergewaltigung ein Verbrechen der Gewalt, der Dominierung und der Macht ist und nichts mit normalem Sex zu tun hat.