Endstation Saalow — leben auf fünf Quadratmetern

Pflegealltag in der DDR: Das Maxim-Zetkin-Pflegeheim in Saalow war Vorzeigeobjekt für die DDR-Oberen/ Der Standardsatz seiner BewohnerInnen: „Wir sind ja noch gut drangewesen“ kennzeichnet eher den Umgang mit Alten, Behinderten und Pflegebedürftigen im Realsozialismus  ■ Von Vera Gaserow

Dieser Geruch in den Zimmern und Fluren — er frißt sich in Haare und Kleidung, er kriecht den Hals hinunter, er verursacht Würgereiz und den einen einzigen Reflex: raus hier, nichts wie raus! Niemand hindert einen daran. Das Tor steht weit offen. Doch von denen, die hinter diesem Tor leben, wird kaum einer hier rauskommen, und wenn, dann nur für ein paar Stunden.

Das „Maxim-Zetkin-Pflegeheim, Saalow, Kreis Zossen, ehemals DDR“ ist eine lebenslängliche Adresse, ein endgültiger Lebensraum für derzeit 600 Menschen, der im besten Fall zwei mal fünf Meter umfaßt — im Normalfall ein Bett, einen Nachttisch und vielleicht ein Viertel Tisch.

Das Pflegeheim in Saalow ist seit Jahrzehnten Abschiebestation für diejenigen, die in den beiden ehemaligen deutschen Staaten gleichermaßen verdrängt, versteckt, verpflegt wurden: für Alte, Pflegebedürftige, geistig und körperlich Behinderte aller Altersstufen. Nicht zufällig hat es einen eigenen Friedhof. Nicht ohne Grund sagen die MitarbeiterInnen, „für die Menschen, die zu uns kommen, gibt es kein Zurück“.

Dabei ist Saalow eine Endstation mit rotem Läufer auf dem Sackbahnhof. Das Pflegeheim galt den DDR- Oberen jahrzehntelang als Vorzeigeobjekt für den vorbildlichen Umgang der realsozialistischen Gesellschaft mit ihren Schwachen. Auch heute noch ist der Satz: „Wir sind ja noch gut dran gewesen“ — der am häufigsten erwähnte von Beschäftigten und PatientInnen. Und leider gibt es nicht den geringsten Grund, an dieser Aussage zu zweifeln.

Hervorgegangen aus einer Nazi-Fliegerschule

Was 1976 per „Direktivauftrag des VIII. Parteitags“ in planmäßigem Chaos vollendet wurde, begann unmittelbar nach dem Krieg. 1945 wurde hier in den weitläufigen umzäunten Baracken einer ehemaligen Nazi-Fliegerschule ein Alten- und Pflegeheim einquartiert. In den 60er Jahren entstanden die ersten festen Gebäude — samt einer überdimensionierten Kantine und einem viel zu groß geratenen Kultursaal. „Damit“, so heute der „ärztliche Leiter“ des Maxim-Zetkin-Heims, Frau Dr. Renate Messerschmidt, „war das Schicksal von Saalow besiegelt.“ Nun mußte schon allein deshalb weitergebaut werden, weil die bis dahin geschaffenen Einrichtungen Auslastung brauchten.

1976 wurde in einer pompösen Zeremonie der schmiedeeiserne Schlüssel für das „neue, rekonstruierte Saalow“ übergeben. Der Parteiauftrag war pflichtgemäß erfüllt. Zurück blieb ein weitläufiges Pflegeghetto mit zahlreichen neuen Unterkunftsgebäuden, bei denen die Architekten aus den sozialistischen Bruderländern leider „vergaßen“, für den Abfluß von Regenwasser zu sorgen. Bis heute tropft es durch die Dächer.

Zurück blieb weiterhin ein Heim mit überdimensionierten Röntgenapparaturen und therapeutischen Vorzeigeeinrichtungen wie einer Sauna, die von den PatientInnen aus Schamgefühl nie genutzt wird. Ein Heim mit einem riesigen Heizwerk, das bereits zwei Jahre nach seiner Einweihung nur noch ungenutzt im Wege stand und allein aus notorischem Geldmangel nicht abgerissen wurde.

Vorzeige-Einrichtung blieb das Maxim-Zetkin-Heim trotzdem, denn es war immer noch besser ausgestattet als alle anderen Pflegeheime in der DDR. Delegation um Delegation wurde zur Besichtigung durch die Neubauten, durch die „vorbildliche“ Physiotherapie und die Gemeinschaftseinrichtungen geführt. „Da wurden immer nur die guten Stationen gezeigt“, berichtet Frau Dr. Messerschmidt heute, „aber ich wollte, daß die seelisch erschüttert rausgehen. Ich habe die Besucher auch in die Baracken geschleppt.“

Was die Baracken waren, daran erinnern sich noch viele in Saalow: Zugige Holzbauten, in denen dicht aneinandergereiht jeweils 60 Menschen untergebracht waren, vom behinderten Kind bis zum Greis, die Türen so eng, daß bettlägerige Patienten im Notfall nicht ins Freie gekommen wären.

Mit jahrzehntelanger Verspätung bescheinigte die von der Heimleitung mobilisierte Feuerwehr den Verantwortlichen 1989: „Wenn es hier brennt, könnt ihr nur noch die verkohlten Leichen rausholen.“ Bis ins Jahr der Wende hat es gedauert, daß die Baracken nach und nach geräumt wurden. Die letzte wurde dieses Jahr in einen Lagerraum umgewandelt.

Im Paradestück DDR-eigener „Pflegekultur“ galt jahrzehntelang der geheime Grundsatz: „Saalow ist groß und Saalow ist weit.“ Was das in der Praxis bedeutete, läßt sich noch heute beobachten. Das Heim mußte unterschiedslos alle aufnehmen, mit denen die Familienangehörigen oder die Kommunen nicht mehr fertig wurden: schwer geistig und körperlich Behinderte, hirngeschädigte Kinder, Alkoholiker. Doch die meisten wurden aus einem einzigen Grund in dieses Heim gebracht: weil sie alt waren und es für Alte im gesamten Bezirk keine andere Alternative gab und bis heute nicht gibt. „Und wenn einer starb“, erinnert sich Schwester Bärbel, „wurde das Bett nicht kalt, da kam gleich der Nächste.“

Zeitweise lebten hier bis zu 800 Menschen aller Altersstufen und Gebrechen zusammen. Heute sind es knapp über 600, für die die flachen Gebäude mit den unübersehbaren Wasserschäden an der Decke und den immer gleichen Fluren ein Zuhause sein soll.

Frau Bauer ist eine Ausnahme in Saalow

Für die 80jährige Alice Bauer ist Saalow tatsächlich ein Zuhause geworden. Mit strahlenden Augen versichert die alte Dame den Besucherinnen: „Ich bin glücklich hier.“ Aber wo hätte sie auch sonst hingehen sollen? Frau Bauer ist eine der wenigen im Maxim-Zetkin-Heim, die ein Zimmer für sich allein hat: ein zehn Quadratmeter kleiner Schlauch, den sie mit zwei kleinen Sesseln, einigen Erinnerungsfotos und dem ihr verbliebenen Rest an Privatheit ausgestattet hat. Frau Bauer ist eine Ausnahme in Saalow.

Sie hat sich eine kleine Beschäftigung gesucht, holt jeden morgen die Post für das Heim, und sie hat es noch nicht aufgegeben, sich jeden Tag hübsch zu machen. Ihre NachbarInnen links und rechts tragen währenddessen die Einheitskluft der Altenstation: geblümte Kittelschürzen und Filzpantinen. Damit schlürfen sie schleppenden Schrittes die langen Stationsgänge hinunter, die von dem spezifischen Saalow-Geruch durchdrungen sind, einer Mischung aus Medizin, schmutziger Wäsche, Essen und menschlichen Ausdünstungen.

Wer nach Saalow kommt, gibt das Recht auf Intimität an der Pforte ab. Vier Toiletten gibt es hier für 50 alte Männer und Frauen, zwei Bäder. Zu dritt oder zu viert teilen sich die Menschen ein kleines Zimmer. Hier wird geschlafen und gewacht, gegrübelt und gegessen, hier soll gelebt werden. Wer das Zimmer noch verlassen kann, hat nur die Möglichkeit, in den reizlosen Gemeinschaftsraum der Station zu gehen.

In den wenigsten Räumen sind Reste von Individualität zu entdecken. Kaum ein schönes Bild, kaum eine Erinnerung. Makaber anmutende Aufforderungen des Roten Kreuzes zum Blutspenden und schrille Poster, die vor den gesundheitsgefährdenden Risiken des Rauchens warnen, sind beinahe die einzigen bunten Flecke in den Gängen. „Mit den BewohnerInnen etwas zu unternehmen, damit sie nicht nur apathisch auf ihren Betten liegen? Ja wie denn?“ fragt Schwester Annemarie, die seit ihrem 15. Lebensjahr in Saalow arbeitet und sich vom „Facharbeiter Krankenpflege“ gerade zur Schwester weiterqualifziert.

Wenn sie mit zwei Kolleginnen auf der Station ist, gilt das schon als gut besetzt — und reicht doch kaum zum Austeilen von Essen und Medizin, geschweige denn zum Ankleiden der alten Leute. Nachts ist Schwester Annemarie häufig allein zuständig für drei Stationen mit fast 150 Menschen.

An allem fehlte es in Saalow, diesem vorbildlichen Pflegheim: an Benzin, um wenigstens einige kleine Ausflüge mit den BewohnerInnen unternehmen zu können, an Einmalspritzen, an Bettunterlagen, damit sich die Kranken nicht wundliegen, an Wegwerfwindeln, an verstellbaren Betten. Gefreut „wie die Götter“ habe man sich, als vor wenigen Wochen im Rahmen einer Soforthilfe des Bundes die ersten „richtigen“ Krankenbetten ankamen, schwärmt Dr. Messerschmidt. „Früher war ja einfach kein Geld da, und wir waren sparsam erzogen. Wir sehen ja auch jetzt erst, was es alles gibt. Aber wir brauchen unser Licht auch gegenüber dem Westen nicht unter den Scheffel zu stellen. Was wir materiell nicht hatten, haben wir durch menschliche Zuwendung ausgeglichen.“

„Menschliche Zuwendung“? Die gab und gibt es sicher in Saalow — bloß von welchen Menschen? Denn woran es in Saalow am allermeisten fehlte, war Personal. Wer wollte hier schon arbeiten bei den „Alten und Verrückten“, weit ab von jeder Verkehrsverbindung, mit einem Anfangsgehalt von 600 Mark brutto?

Bis vor kurzem noch in der Zwangsjacke

„Es ist noch nicht allzulange her, da hat Tanja in einer Zwangsjacke gesteckt“, weist Pädagoge Hans Bugaj in der vergitterten Schwerstbehindertenstation auf eine etwa zwanzigjährige Frau, die sich wie ein kleines Kind wärmesuchend an die Heizung kauert. „Das war kein böser Wille, aber wir hatten einfach nicht genug Leute, um die Jugendlichen hier auf Trab zu halten, damit sie nicht alles auseinandernehmen oder uns wegrennen.“

Schon vor der Wende hat sich auf dieser Station ein engagiertes Team zusammengefunden, das versucht, mit den von Geburt an Behinderten zu unternehmen, was noch geht. „Aber viel ist da nicht mehr möglich“, urteilt die ärztliche Leiterin, „einige Jugendliche hätten durchaus die Chance gehabt, aus Saalow rauszukommen in spezielle Fördereinrichtungen. Bloß — diese Einrichtungen gab es ja kaum. Diejenigen, die jetzt noch bei uns sind, hatten das Pech, zur falschen Zeit geboren zu sein. Die können wir gar nicht mehr rausgeben. Für die kommt jede Förderung zu spät.“ Eine Feststellung, die bis heute in Saalow ein Weiterdenken erspart.

Nach wie vor leben hier auf einigen Stationen behinderte Jugendliche auf engstem Raum mit schwerkranken Alten zusammen, von denen sie kaum Anregungen bekommen. Eine der wenigen Fördermaßnahmen, die Saalow anbieten konnte, und auf die man jahrelang stolz war, ist die Arbeitstherapie. Für eine Mark pro Tag haben hier diejenigen, die konnten und wollten, Plastikbestecke für die Interflug zusammengepackt oder kleine Steckkontakte für den Trabi montiert. Doch mit der Währungsunion und ihren Folgen ist diese Möglichkeit vorerst vorbei. Die Betriebe, denen Saalow bisher zugeliefert hat, haben keinen Bedarf mehr oder sind längst Pleite. Nun weiß man nicht mehr „was wir den Leuten noch zu arbeiten geben sollen“.

Doch Währungsunion und die Wiedervereinigung haben dem Maxim-Zetkin-Heim nicht in erster Linie Negatives beschert. Der 1.Juli 1990 brachte nicht nur Einmalspritzen und neue Pflegemittel. Er brachte vor allem neues Personal. In beinahe allen Abteilungen ist die Zahl der Mitarbeiterinnen gestiegen. Der soziale Druck und die Angst vor Arbeitslosigkeit haben den Krankenstand drastisch gesenkt. Darüber hinaus bewarben sich gekündigte Schwestern und Pflegekräfte aus Polikliniken, und entlassene Frauen aus anderen Betrieben klopfen jetzt im Personalbüro an.

„Schließlich“, so meint Schwester Annemarie beinahe beschämt, „verdienen wir jetzt gutes Geld.“ Das gute Geld — das sind in der höheren Besoldungsstufe rund 1.200 Mark netto für eine körperlich und seelisch extrem belastende Arbeit im Dreischichtsystem. Dennoch: der Personalstand steigt. Inzwischen kann man sich sogar endlich den „Luxus“ leisten, offenkundig ungeeignete MitarbeiterInnen zu entlassen.

Mit der Währungsunion kam auch der Fernseher nach Saalow

Mit der Währungsunion haben die Beschäftigen des Maxim-Zetkin- Heims noch einen neuen Kollegen gewonnen, der gut und gern zehn Planstellen einspart: den Fernsehapparat. Schräg gegenüber von der Altenstation, im neuen Vorzeigeprojekt von Saalow, haben sich junge geistig behinderte Männer zu zweit und zu dritt ihre eigenen Zimmer neu eingerichtet.

Von ihrer nicht geringen Schwerbehindertenrente konnten sich einige BewohnerInnen Ersparnisse zurücklegen, bei anderen brachte das schlechte Gewissen der Angehörigen nach der Währungsunion eine West-Schrankwand ein, Kuscheltiere und auch den obligatorischen eigenen Fernsehapparat. In einigen Zimmern stehen gleich zwei nebeneinander, vor denen im Halbmeterabstand völlig gebannt die jungen Männer sitzen.

Für viele Heimbewohner wird dieser Fernseher die letzte große Investition gewesen sein. Denn mit der Wiedervereinigung gilt auch für das Maxim-Zetkin-Heim ab 1991 das bundesdeutsche Pflegesystem. Und das bedeutet: die Einrichtung muß sich im wesentlichen über die Pflegesätze selbst finanzieren. 120 Mark im Monat zahlten die BewohnerInnen hier jahrelang für eine Rundumversorgung — für die Angehörigen häufig ein einträgliches Geschäft, denn den Rest der Rente strichen sie in der Regel selber ein.

Doch seit dem 1.Juli ist der Pflegesatz auf 335 Mark gestiegen, zum Jahresanfang wird er bei rund 1.200 Mark liegen, und in nicht allzu langer Zeit wird er das westdeutsche Niveau von 3.000 bis 4.000 Mark erreicht haben. Eine Vision, die einige BewohnerInnen — aber vor allem deren Angehörige — in Unruhe versetzt. Niemand in Saalow hat so viel Geld, daß er für den Heimaufenthalt allein aufkommen könnte. Auch von den Angehörigen verdient zur Zeit keiner so viel, daß man sie in dieser Größenordnung zur Kasse bitten könnte.

„Da muß eben der Staat einspringen“, versucht Dr. Messerschmidt zu beruhigen, doch langfristig werden die Angehörigen dazuzahlen müssen. Den BewohnerInnen von Saalow wird nicht mehr als ein kleines monatliches Taschengeld bleiben.

Doch „so schlecht“ sehe es für Saalow gar nicht aus. Im Gegensatz zu anderen DDR-Pflegeinrichtungen scheint der Haushalt für das nächste Jahr annähernd gesichert, und auch eine andere Sache ist so gut wie versprochen: Das Deutsche Rote Kreuz will das einstige DDR-Prestigeobjekt übernehmen.

Die Angst, für den Heimaufenthalt des behinderten Kindes oder der pflegebedürftigen Mutter „Haus und Hof“ verkaufen zu müssen, hat währenddessen Konsequenzen gezeitigt. Die ersten HeimbewohnerInnen sind von ihren Familienangehörigen zurück nach Hause geholt worden, „und leider waren es vor allem die, wo man ahnt, daß das nicht gutgehen wird“, meint Frau Dr. Messerschmidt.

„Wollen Sie die guten oder die schlimmen Zimmer sehen?“

Aus der Station 17 wird niemand nach Hause geholt werden. Besuch von Familienangehörigen ist hier eine Seltenheit. Die Station ist eine von dreien, in denen die geistig Schwerstbehinderten untergebracht sind. Schon an der Eingangstür des Flachbaus schlägt einem der beißende Geruch von Urin entgegen. „Wollen Sie die Zimmer wirklich sehen?“, fragt Schwester Bärbel, „die guten oder die schlimmen?“

Die „guten“, das sind trostlose Fünfbettzimmer, auf denen geistig verwirrte Frauen aller Altersstufen auf ihren Betten hocken, teilweise nackt, teilweise nur mit einem zerschlissenen Hemdchen bekleidet. Die „schlimmen Zimmer“, das sind die, „in die Sie nur mit Gummistiefel reingehen können“, warnt eine Schwester. Lieblose Räume ohne jeden Farbtupfer, ohne einen Blickfang, in denen die Frauen nur noch vor sich hinstarren. Zimmer in denen die Kotspuren trotz täglicher Reinigung nicht mehr zu übersehen sind. „Seit dem 1.Juli haben wir wenigstens Pampers“, erzählt Schwester Bärbel. Jahrzehntelang wurden die PatientInnen von Saalow mit x-fach wiederverwendeten harten Stofflaken gewindelt. Warum es trotz der neuen Pampers so erstickend nach Urin und Kot riecht? Weil die besten Einmalwindeln nichts nützen, wenn niemand sie wechselt. Und weil ein menschlicher Körper riecht, wenn zu wenig Zeit da ist, ihn zu waschen.

Wie soll Schwester Bärbel das auch schaffen? „Im Spätdienst bin ich ganz allein mit 45 Patientinnen, die auch noch gefüttert werden wollen. Auf diese Station kommt niemand freiwillig zum Arbeiten.“ Schwester Bärbel tut es ohne einen Anflug von Sarkasmus oder Mißmut. Sie arbeitet hier seit 15 Jahren, wo wir nach 15 Minuten nur noch an die frische Luft flüchten wollen.

Was wir denn nun schreiben werden über Saalow, will Schwester Annemarie zum Abschied wissen. Daß Saalow nicht sehr viel trister und menschenunwürdiger ist als etliche Pflegeheime in der Bundesrepublik, aber daß ein solcher Systemvergleich den Menschen dort kein Fünkchen hilft. Daß der Satz „Wir sind noch gut drangewesen“ lieber nicht zu Ende gedacht werden will. Daß der Geruch von Saalow noch Stunden später in der Nase liegt, und daß das Bild von der alten „Omi Matzke“ einfach nicht aus dem Kopf geht. Das Bild von dieser kleinen geistig verwirrten Frau, die winzig auf ihrer unbezogenen Matratze kauert und seit zwei Jahren immer wieder diesen einen Satz fleht: „Ich will nach Hause zu meinen Tieren. Laßt mich hier raus.“

packt oder kleine Steckkontakte für den Trabi montiert. Doch mit der Währungsunion und ihren Folgen ist diese Möglichkeit vorerst vorbei. Die Betriebe, denen Saalow bisher zugeliefert hat, haben keinen Bedarf mehr oder sind längst Pleite. Nun weiß man nicht mehr „was wir den Leuten noch zu arbeiten geben sollen“.

Doch Währungsunion und die Wiedervereinigung haben dem Maxim-Zetkin-Heim nicht in erster Linie Negatives beschert. Der 1.Juli 1990 brachte nicht nur Einmalspritzen und neue Pflegemittel. Er brachte vor allem neues Personal. In beinahe allen Abteilungen ist die Zahl der Mitarbeiterinnen gestiegen. Der soziale Druck und die Angst vor Arbeitslosigkeit haben den Krankenstand drastisch gesenkt. Darüber hinaus bewarben sich gekündigte Schwestern und Pflegekräfte aus Polikliniken, und entlassene Frauen aus anderen Betrieben klopfen jetzt im Personalbüro an.

„Schließlich“, so meint Schwester Annemarie beinahe beschämt, „verdienen wir jetzt gutes Geld.“ Das gute Geld — das sind in der höheren Besoldungsstufe rund 1.200 Mark netto für eine körperlich und seelisch extrem belastende Arbeit im Dreischichtsystem. Dennoch: der Personalstand steigt. Inzwischen kann man sich sogar endlich den „Luxus“ leisten, offenkundig ungeeignete MitarbeiterInnen zu entlassen.

Mit der Währungsunion haben die Beschäftigen des Maxim-Zetkin- Heims noch einen neuen Kollegen gewonnen, der gut und gern zehn Planstellen einspart: den Fernsehapparat. Schräg gegenüber von der Altenstation, im neuen Vorzeigeprojekt von Saalow, haben sich junge geistig behinderte Männer zu zweit und zu dritt ihre eigenen Zimmer neu eingerichtet.

Mit der Währungsunion kam auch der Fernseher nach Saalow

Von ihrer nicht geringen Schwerbehindertenrente konnten sich einige BewohnerInnen Ersparnisse zurücklegen, bei anderen brachte das schlechte Gewissen der Angehörigen nach der Währungsunion eine West-Schrankwand ein, Kuscheltiere und auch den obligatorischen eigenen Fernsehapparat. In einigen Zimmern stehen gleich zwei nebeneinander, vor denen im Halbmeterabstand völlig gebannt die jungen Männer sitzen.

Für viele Heimbewohner wird dieser Fernseher die letzte große Investition gewesen sein. Denn mit der Wiedervereinigung gilt auch für das Maxim-Zetkin-Heim ab 1991 das bundesdeutsche Pflegesystem. Und das bedeutet: die Einrichtung muß sich im wesentlichen über die Pflegesätze selbst finanzieren. 120 Mark im Monat zahlten die BewohnerInnen hier jahrelang für eine Rundumversorgung — für die Angehörigen häufig ein einträgliches Geschäft, denn den Rest der Rente strichen sie in der Regel selber ein.

Doch seit dem 1.Juli ist der Pflegesatz auf 335 Mark gestiegen, zum Jahresanfang wird er bei rund 1.200 Mark liegen, und in nicht allzu langer Zeit wird er das westdeutsche Niveau von 3.000 bis 4.000 Mark erreicht haben. Eine Vision, die einige BewohnerInnen — aber vor allem deren Angehörige — in Unruhe versetzt. Niemand in Saalow hat so viel Geld, daß er für den Heimaufenthalt allein aufkommen könnte. Auch von den Angehörigen verdient zur Zeit keiner so viel, daß man sie in dieser Größenordnung zur Kasse bitten könnte.

„Da muß eben der Staat einspringen“, versucht Dr. Messerschmidt zu beruhigen, doch langfristig werden die Angehörigen dazuzahlen müssen. Den BewohnerInnen von Saalow wird nicht mehr als ein kleines monatliches Taschengeld bleiben.

Doch „so schlecht“ sehe es für Saalow gar nicht aus. Im Gegensatz zu anderen DDR-Pflegeinrichtungen scheint der Haushalt für das nächste Jahr annähernd gesichert, und auch eine andere Sache ist so gut wie versprochen: Das Deutsche Rote Kreuz will das einstige DDR-Prestigeobjekt übernehmen.

Die Angst, für den Heimaufenthalt des behinderten Kindes oder der pflegebedürftigen Mutter „Haus und Hof“ verkaufen zu müssen, hat währenddessen Konsequenzen gezeitigt. Die ersten HeimbewohnerInnen sind von ihren Familienangehörigen zurück nach Hause geholt worden, „und leider waren es vor allem die, wo man ahnt, daß das nicht gutgehen wird“, meint Frau Dr. Messerschmidt.

„Wollen Sie die guten oder die schlimmen Zimmer sehen?“

Aus der Station 17 wird niemand nach Hause geholt werden. Besuch von Familienangehörigen ist hier eine Seltenheit. Die Station ist eine von dreien, in denen die geistig Schwerstbehinderten untergebracht sind. Schon an der Eingangstür des Flachbaus schlägt einem der beißende Geruch von Urin entgegen. „Wollen Sie die Zimmer wirklich sehen?“, fragt Schwester Bärbel, „die guten oder die schlimmen?“

Die „guten“, das sind trostlose Fünfbettzimmer, auf denen geistig verwirrte Frauen aller Altersstufen auf ihren Betten hocken, teilweise nackt, teilweise nur mit einem zerschlissenen Hemdchen bekleidet. Die „schlimmen Zimmer“, das sind die, „in die Sie nur mit Gummistiefel reingehen können“, warnt eine Schwester. Lieblose Räume ohne jeden Farbtupfer, ohne einen Blickfang, in denen die Frauen nur noch vor sich hinstarren. Zimmer in denen die Kotspuren trotz täglicher Reinigung nicht mehr zu übersehen sind. „Seit dem 1.Juli haben wir wenigstens Pampers“, erzählt Schwester Bärbel. Jahrzehntelang wurden die PatientInnen von Saalow mit x-fach wiederverwendeten harten Stofflaken gewindelt. Warum es trotz der neuen Pampers so erstickend nach Urin und Kot riecht? Weil die besten Einmalwindeln nichts nützen, wenn niemand sie wechselt. Und weil ein menschlicher Körper riecht, wenn zu wenig Zeit da ist, ihn zu waschen.

Wie soll Schwester Bärbel das auch schaffen? „Im Spätdienst bin ich ganz allein mit 45 Patientinnen, die auch noch gefüttert werden wollen. Auf diese Station kommt niemand freiwillig zum Arbeiten.“ Schwester Bärbel tut es ohne einen Anflug von Sarkasmus oder Mißmut. Sie arbeitet hier seit 15 Jahren, wo wir nach 15 Minuten nur noch an die frische Luft flüchten wollen.

Was wir denn nun schreiben werden über Saalow, will Schwester Annemarie zum Abschied wissen. Daß Saalow nicht sehr viel trister und menschenunwürdiger ist als etliche Pflegeheime in der Bundesrepublik, aber daß ein solcher Systemvergleich den Menschen dort kein Fünkchen hilft. Daß der Satz „Wir sind noch gut drangewesen“ lieber nicht zu Ende gedacht werden will. Daß der Geruch von Saalow noch Stunden später in der Nase liegt, und daß das Bild von der alten „Omi Matzke“ einfach nicht aus dem Kopf geht. Das Bild von dieser kleinen geistig verwirrten Frau, die winzig auf ihrer unbezogenen Matratze kauert und seit zwei Jahren immer wieder diesen einen Satz fleht: „Ich will nach Hause zu meinen Tieren. Laßt mich hier raus.“