Spekulatius

Annäherungen an einen mürben Weihnachtskeks  ■ Von Richard Laufner

Höllen-Geburt

Das Metallförderband wie auf dem Flughafen. Langsame, unerbittliche Vorwärtsbewegung. Die dunkle Öffnung, dann die Hitze. 150, 200, 250 Grad. Der Trieb regt sich, drängt. Metamorphose in wenigen Minuten, die zur Ewigkeit werden. Warum beeilt sich niemand, hier rauszukommen? Die Gaukler vorne und hinten, die Elefanten zur Rechten, Lokomotiven zur Linken. Keiner tanzt aus der Reihe. Endlich weiter vorne der Schimmer von fahlem Neonlicht. Die letzten Zentimeter — Geburt aus der Hölle.

Roland Nowacki, Industriebäcker in dem mittelständischen Unternehmen mit Schwerpunkt Diätgebäck nahe Marburg, rückt das Hygiene-Käppi auf der schwarzen Kurzhaarfrisur zurecht. Die letzte der acht 250-Kilogramm-Chargen Spekulatiusteig in dieser Frühschicht ist durch den Stahlband-Backofen gelaufen. In einer halben Stunde wird er am nahen Baggersee liegen. Noch fünf Monate bis Weihnachten.

Spekulatius: „Gebildbackware aus meist gewürztem Mürbegebäckteig“ — so die Definition der deutschen Süßwarenindustrie. 15.- bis 20.000 Tonnen Ausstoß jährlich allein im Gebiet der Alt-Bundesrepublik, 85 Millionen DM Umsatz. Hinter Lebkuchen und Dominosteinen auf Rang 3 der Saisongebäcke. Für Herbert Mohr, Produktmanager in Deutschlands traditionsreichster Keksfabrik in Hannover, ist der Siebengrammkeks ein „ganz schöner Brocken“. Die Masse macht's: 2,5 Milliarden Stück verschwinden jährlich in deutschen Mündern, setzen sich in Zahnlücken fest.

Spurensuche, oder: Times they are a'changin'

Für unser visuell getrimmtes Wahrnehmungsvermögen die üblichen Veranschaulichungen: eine Fläche von 1.500 Fußballfeldern, gestapelt ein Turm von 12.500 Kilometer Höhe, in der Längsseite aufgereiht eine Strecke von 175.000 km Länge, also gut viermal um den Globus. Das ist deutscher Spekulatius anno 1990.

Der Name ist ein Rätsel geblieben, hat dem Forschungseifer akribischer Volkskundler widerstanden: Kommt „Spekulatius“ vom lateinischen speculum (= Spiegel, Schauseite), oder ist es eine Zusammenziehung der holländischen Wörter „Spekulatie“ und „Spekklaas“, in welchem das Wort „Klaas“, als „Nikolaus“ enthalten ist? Der vor allem im Rheinland und Holland verbreitete Keks ist schließlich ein beliebtes Nikolausgebäck. Eine andere Herleitung, nämlich von „episcopus speculator“, also der lateinischen Bezeichnung für Bischof, führt zum gleichen Ziel. Der legendenbildende HI. Nikolaus — wiederum unklar, ob der Bischof von Myra oder Pinora (4. bzw. 6. Jahrhundert) — war schließlich der berühmteste der kirchlichen Hirten. Mit den Bemühungen eines Dr. Heinrich Fincke aus Köln jedoch brach die Spekulatiusforschung Anfang der 60er Jahre ab. Danach ging selbst Volkskundlern auf, daß es „relevantere“ Themen gäbe. Einbruch der 68er Moderne. Die Zeiten ändern sich: Heute darf wieder über Spekulatius geschrieben werden. Nur „schräger“. Das ist dann Postmoderne.

Die Frage reizt: Wenn ein Keks namentlich enge Verwandschaft mit Bischöfen vermuten läßt, wie denken diese dann über ihn?

Heutzutage haben bischhöfliche Pressestellen einen ähnlich hohen Output wie die — sagen wir — des Zentralverbandes der Lackfarbenindustrie oder des Bundesverbandes der Spielotheken. Aber es gibt Fragen, die bleiben unbeantwortet. Katholisch-kategorisch. So wie die nach der Wertschätzung des Spekulatius. Fuldas Bischof Dyba, der beim Glockenläuten zum Fest der unschuldigen Kindlein unbekümmerten Zugriff auf religiöses Brauchtum zeigt, wehrt ab. Auch der Kölner Kardinal. Auch sein Weihbischof, obwohl der mit Vornamen Klaus heißt. Sogar Bischof Hämmerle aus der Printen- und Weihnachtsgebäck- Metropole Aachen: „Nein, kein einziger Satz zu Spekulatius.“

Der Bischof und der Keks — das Erhabene und das Banale. Ein Keks als Zumutung, die abgewehrt wird: verdammter Keks.

Klassik, aber historische Untiefen

Spekulatius — welches andere Gebäck hat einen so noblen Namen? Aber das zählt in der Konkurrenz der immer raffinierteren Süßigkeiten kaum. Das Rezept besticht durch Klassik: 1:2:4 das Verhältnis Fett zu Zucker zu Mehl, dazu die spezifischen Gewürze Nelken, Kardamon, Zimt, Muskat und als „Trieb“ Hirschhornsalz. Abgesehen von Mandeln keine aufgesetzten Bemühungen um Veredelung mit Schokoladenguß oder anderem Schnickschnack. Klassik eben. Aber die Form: Im Zweistromland begann vor 5.000 Jahren die Kultur der Back-Model, die Nahrungsmittel in Form brachte. Nicht zuletzt, um die Götter gnädig zu stimmen. Im 19. Jahrhundert endete die Kulturgeschichte der Backmodel. Ausgerechnet im Spekulatius hat sie ihr Denkmal. Eigentlich eine Anmaßung, denn im Gegensatz zum altehrwürdigen Modelgebäck Lebkuchen ist der Spekulatius nicht viel mehr als 200 Jahre alt.

Schon im letzten Jahrhundert schnitzten Knastinsassen und Schäfer in die Buchenholzbretter auch die ersten Eisenbahnen und Rheindampfer. Aktuell bleiben. Auch zu religiös durften die Motive nicht sein. Bis auf den heutigen Tag, denn das könnte die a-religiösen wie die religiös-fundamentalistischen Käuferkreise abschrecken, wie Marketingexperten betonen.

„Gemodelte“ historische Aura und Moderne — eine gebackene Bestätigung der philosophischen Kompensationstheorie, nach der die immer rasantere gesellschaftliche Modernisierung als Gegengewicht den Rückgriff auf Kulturgeschichte braucht. Ein Spekulatius für Odo Marquard und Hermann Lübbel!

Maskulin-feminin Singular-Plural

Die lateinische us-Endung signalisiert zunächst maskuline Singularität. Das täuscht. „Spekulatius“ ist auch Pluralwort, ißt sich gleichfalls nur im Plural. Außerdem eignet sich Spekulatius zur seriellen Produktion und raumsparenden Abpackung. Als im biedermeierlichen 19. Jahrhundert das vorweihnachtliche Plätzchenbacken zum Prestigekult heiler Bürgerfamilien wurde, überließ man den Spekulatius weitgehend der manufakturellen und der beginnenden industriellen Keksproduktion.

Auch der häusliche Neo-Backboom der letzten Jahre sparte den Spekulatius ziemlich aus. Auf ein Backblech passen nicht mal zwei dutzend Exemplare, der Model-Einsatz ist umständlich — bei den vergleichsweise niedrigen Verkaufspreisen kein günstiges Verhältnis von Aufwand und Ertrag.

So hat der mürbe Rheinländer kaum zur patriarchalischen „Plätzchenideologie“ beigetragen, die laut Weihnachtsforscherin Ingeborg Weber-Kellermann die Mütter bis in die heutige Zeit an den Rand des vorweihnachtlichen Nervenzusammenbruchs treibt.

Ein früher Feminist.

Post festum

Kindheitserinnerung: Seine eigentliche Zeit kam immer erst, wenn die Printen, Marzipankugeln, Dominosteine und Wiener Mandeln schon aufgegessen waren. Wenn auch der schokoladene Christbaumschmuck unter den Geschwistern aufgeteilt und selbst durch windige Tauschaktionen vom Weihnachtsteller der jüngeren Schwester nichts mehr zu holen war. Dann lagen da immer noch ein paar Spekulatius, manche unter der Last von Apfel oder Apfelsine zerbrochen, längst nicht mehr knusprig. Abschied vom Weihnachtszauber.