Vom Verschüttetsein

■ Richard Wagners Roman „Die Muren von Wien“

Muren sind Schlamm- und Gesteinsströme im Gebirge, durch Regenfälle ausgelöst. Der 1952 in Rumänien geborene Richard Wagner wendet die Naturmetapher auf die politischen Veränderungen des Jahres 1989 an: Die Menschen, die noch nicht wußten, welchen Lauf die Ereignisse nehmen würden, strömten auf die Westgrenzen zu. „Die Muren gingen nieder, die Menschen rennen los... Die rennen jetzt, und sie sind überzeugt, sie rennen um ihr Leben. Und danach werden sie graben müssen. Denn auch wer davongekommen ist, bleibt verschüttet.“

Der Ingenieur Benda, der Held dieses schmalen Romans, ist schon vor längerer Zeit davongekommen. Beim zweiten Versuch war Benda — er ist wie sein Autor Banater Schwabe — die Flucht in den Westen geglückt. Er hat in München einen Arbeitsplatz, sein Leben scheint geordnet. Eines Tages, im Sommer 1989, verläßt ihn seine Freundin Eva, die ihm bei der Flucht geholfen hatte. Hals über Kopf kündigt er seinen Job, reist planlos nach Wien, lernt dort eine andere Frau kennen, die ihn nach einer Weile ebenfalls unvermittelt verläßt. Er reist nach München zurück. Aus.

Am Anfang meint man, die Geschichte würde schlimmer enden, mit einer grellen Katastrophe. Aber die Identitätskrise, von der Wagner berichtet, nimmt einen leisen, unscheinbaren Verlauf. Der lapidare, unprätentiöse Ton der Erzählung macht plausibel, daß die Krise eher an einem zufälligen Punkt dieser Biographie manifest wird, daß sie tiefere Wurzeln hat. In regelmäßigen Schleifen kommt die Erzählung auf die Vorgeschichte zurück, die traurige Jugend im Banat, die Schul- und Militärzeit, die Knasterfahrung nach dem ersten, gescheiterten Fluchtversuch. Bendas existentielles Problem ist das der Unzugehörigkeit. Im Banat hat er immer das Gegenteil von dem geglaubt, was die Kommunisten erzählten. „So ist aus ihrem verfaulten Kapitalismus mein goldener Westen entstanden.“ Auf den Umkehrschluß folgt — nach der Flucht — die Desillusionierung: „Die ersten Jahren nur Abstriche... Sein Westen war eine Illusion gewesen, die er sich gegen die tötende Banalität des Lebens im Banat ausgedacht hatte.“

Das ist auch eine Geschichte von drei Frauen: von Marianne, der Banater Jugendliebe; von Eva, der Münchnerin, die ihn herausgeholt hat; von Iris, der flüchtigen Wiener Bekanntschaft. Alle drei sollten den „Verschütteten“ ausgraben, ihm eine seelische Heimat vermitteln in einer Welt, in der er sich nicht geborgen fühlt. „Die Mure bleibt. Jeder muß sich irgendwann selbst ausgraben. Die wenigsten schaffen es.“ Martin Krumbholz

Richard Wagner: Die Muren von Wien. Roman. Luchterhand Literaturverlag, Frankfurt am Main, 136 Seiten, 28 D-Mark.