Stahlarbeiter drohen mit Streik

■ Tarifverhandlungen nach 16 Stunden vorerst gescheitert/ Trotz minimaler Differenzen Urabstimmung beantragt/ Forderung nach Gleichstellung mit der Metallindustrie

Berlin (taz) — Als die Verhandlungsdelegationen der Stahl-Tarifparteien gestern um zwei Uhr früh im Duisburger Hof vor die Tür traten, war die Stimmung auf dem Tiefpunkt: „Die Wahrscheinlichkeit eines Arbeitskampfes ist sehr groß“, meinte Lorenz Brockhues zum Stand der Stahl-Tarifrunde 1990, in der es um Lohnerhöhungen und Arbeitszeitverkürzung für die 135.000 Stahlwerker in NRW, Bremen und Niedersachsen geht. In dem 16stündigen Verhandlungsmarathon hatten die Verhandlungsführer von IG Metall und Arbeitgeberverband Eisen und Stahl keine Lösung gefunden, obwohl doch vorher schon fast alles klar zu sein schien.

Die Gewerkschaft fordert zehn Prozent mehr Einkommen und die schnelle Verkürzung der Wochenarbeitszeit auf 35 Stunden. Da waren die Arbeitgeber durchaus entgegenkommend, und eine Einigung schien nahe. Sie boten entsprechend dem Abschluß in der Metallindustrie vom Mai dieses Jahres sechs Prozent Lohnerhöhung und die Einführung der 35-Stunden-Woche zum 1.10.95 — allerdings nicht wie in der Metallindustrie in zwei Stufen, sondern in einem Schritt. Festgefahren haben sich die Verhandlungen jedoch an der von der IG Metall geforderten Vorweganhebung auf den Facharbeiterecklohn um 41 Pfennig auf das Niveau in der Metallindustrie. Die Arbeitgeber mochten bislang nur 13 Pfennig zugestehen. In Wirklichkeit geht es vor allem darum, daß die Stahlarbeiter beim Lohn und bei der Arbeitszeit wieder mit der metallverarbeitenden Industrie gleichziehen wollen. Während der Stahlkrise bis Mitte der 80er Jahre hatten die Stahlarbeiter gegenüber ihren Kollegen im Metallbereich den Anschluß verloren. Seit einigen Jahren allerdings boomt die Stahlindustrie — Grund genug, den Rückstand aufzuholen.

Schon am letzten Montag hatte die Große Tarifkommission der IG Metall die Verhandlungen für gescheitert erklärt, nach hoffnungsvollen Signalen aus dem Arbeitgeberlager dieselben jedoch Donnerstag wiederaufgenommen. Nach dem Scheitern dieser Verhandlungen beschloß die Tarifkommission gestern, beim Vorstand der IG Metall die Einleitung einer Urabstimmung über Kampfmaßnahmen zu beantragen. Wenig spricht dafür, daß die Streikdrohung der Stahlarbeiter wirklich ernst gemeint ist. Denn in vielen Stahlkonzernen, die in ihren metallverarbeitenden Zweigen ohnehin nach den Tarifen für die Metallindustrie zahlen müssen, wurden die Unterschiede in der Praxis längst abgeschafft. Der IG-Metall-Vorstand wird am Montag über diesen Antrag entscheiden. Martin Kempe