Sowjetbürger auf der Flucht

■ Schätzungen über die Ausreisewilligen gehen in die Millionen

Wer in diesen Tagen einen plastischen Eindruck von der Ausreisewilligkeit in der Sowjetunion bekommen möchte, findet dafür keinen besseren Ort als die Botschaften der ersehnten westlichen Reiseländer, den Vertretungen der USA, der BRD, Kanadas und der skandinavischen Länder. Wochenlang kampieren die Ausreisewilligen bei Wind und Wetter im Freien, rücken nicht vom Fleck und hocken mit ihrer „Laufnummer“ auf den Ästen der Bäume, um die langwierigen Prozeduren über sich ergehen zu lassen. Jedesmal, wenn ein Mitarbeiter der US- amerikanischen Botschaft vor das Tor tritt, um die bewilligten Visa zu verkünden, stürzen Massen auf den Eingang zu — für Sekunden stockt allen der Atem: „Werden wir diesmal dabeisein?“ Nein, wieder nicht. Und es beginnt das monotone und wirklichkeitsferne Gefrage: „Wie hast du das nur so schnell geschafft?“ Auch dieser Antragsteller hat natürlich mehr als ein halbes Jahr gebraucht...

Im vergangenen Jahr erhielten 235.000 Sowjets die Erlaubnis, das Land für immer zu verlassen. Bis September 1990 waren es allein schon 305.000, und das auch ohne Reisegesetz. Die meisten der Emigranten gehörten ethnischen Minderheiten an, Juden, Armenier, Deutsche und Griechen. Heute hingegen verstärkt sich der Trend, daß immer mehr Russen ihre Heimat verlassen wollen. Eine Umfrage unter Jugendlichen ergab kürzlich, fast 70 Prozent der 20- bis 35jährigen spielen mit dem Gedanken, ganz wegzugehen, ein Viertel möchte auf jeden Fall für eine gewisse Zeit im Ausland arbeiten. Nur ganze fünf Prozent wollen zu Hause bleiben. Natürlich treten hier regionale Unterschiede auf. Der Drang zum Exodus zeigt sich besonders stark in den großen Städten Rußlands und in den ländlichen Gebieten um Moskau. Die Jugend der asiatischen Republiken gibt sich bodenständiger.

Noch vor nicht allzulanger Zeit wurde ein Russe, der „Rossija“ den Rücken kehrte, von seinen Mitmenschen scheel angeschaut, mochte er dazu gute Gründe haben oder nicht. Hier hat sich ein auffälliger Wandel eingestellt. Kaum einer der in einem anderen Survey vom Allunions-Institut für Meinungsforschung Befragten hegte noch irgendwelche Ressentiments gegenüber ausreisewilligen Mitbürgern. Ein Drittel sprach davon, am liebsten sogar selbst zu gehen. Nur wenn die Verteidigungsfähigkeit des Landes in Gefahr geriete, meinte rund ein Fünftel, sollte der Staat eingreifen können. Mit anderen Worten, das Reservoire der sprichwörtlichen russischen Leidens-und Geduldsamkeit scheint erschöpft.

Das gilt vor allem auch für die Jugend, denen die hierarchischen Strukturen der Sowjetgesellschaft häufig jede Perspektive verstellt. Sie wird schlecht bezahlt, ausgebeutet und darf an dem ausgeklügelten Verteilungsprinzip noch nicht teilhaben. Es ist ein Seniorensystem, das die Menschen nach ihren Dienstjahren gratifiziert. Für eine Wohnung oder ein Auto gehen da schon mal zwanzig Arbeitsjahre ins Land. Daher, so der Meinungsforscher Isynmow, hat „fast jeder gebildete Moskauer im produktivsten Alter zwischen 15 und 40 Jahren darüber nachgedacht oder denkt gerade darüber nach zu emigrieren“. Nach einer Prognose des sowjetischen Innenministeriums werden nach Verabschiedung des Gesetzes mindestens 600.000 Menschen das Land auf der Stelle verlassen. 1,5 Millionen haben ein Ausreisevisum in die USA beantragt.

Speiste sich der Emigrationsdrang der 70er Jahre vornehmlich aus den repressiven politischen Verhältnissen, trägt der jetzige Exodus (noch) ein klares ökonomisches Vorzeichen. Damit hat auch der Emigrantenwitz der 70er Jahre seine Pointe eingebüßt: Als Breschnew durch die Moskauer Innenstadt fuhr und auf eine riesige Menschenansammlung stieß, reihte er sich ein. Das Knäuel stob auseinander. Auf sein Erstaunen hin erklärte ihm ein Passant: „Hier warten alle auf Ausreisevisa. Und als Sie hier auftauchten, sah keiner mehr einen Grund zu gehen.“ Das würde Gorbatschow heute nicht mehr passieren. Die Devise, gefunden in einem Moskauer Mafialokal, lautet: „From East to West is still the best.“ Klaus-Helge Donath, Moskau