„Es besteht die Gefahr, daß wir in die Dissidentenrolle geraten“

■ Herbert Leuninger, Sprecher der Arbeitsgemeinschaft Pro Asyl, zur Ost-West-Migration und den Folgen in Westeuropa INTERVIEW

taz: Herr Leuninger, welche Konsequenzen bringen die Veränderungen in Osteuropa für die Flüchtlingspolitik in der Bundesrepublik und in Westeuropa?

Leuninger: Die Entwicklung in Osteuropa bedeutet in diesem Zusammenhang, daß das ganze Konzept, das mit den Regierungs-Abkommen von Schengen und Trevi ausgedacht wurde, zusammengebrochen ist. Denn dieses Konzept basierte auf der Vorstellung, daß man um die EG herum eine Festungsmauer errichtet. Dabei waren der Eiserne Vorhang und die Berliner Mauer als ein fester Bestandteilt eingebaut. Beides ist nun zusammengefallen. Die Region, die man in Analogie zu Amerika den Hinterhof Europas nennen kann, ist nun offen, und damit stellt sich für Europa die Frage völlig neu, wie man mit Zuflucht umgeht.

Zur Zeit wird darüber spekuliert, daß in den nächsten Monaten Hunderttausende, wenn nicht Millionen Sowjetbürger in den Westen kommen könnten. Gibt es angesichts dieser Vision eine Idee, wie man mit diesem Problem menschlich und vernünftig umgehen kann?

Nein, ich glaube eine solche Vorstellung gibt es nicht. Man bringt in diesem Zusammenhang den völlig diffusen und geschichtlich weit weg liegenden Begriff Völkerwanderung ins Spiel. Ich glaube, damit will man nicht nur die Größenordnung darlegen, sondern auch die Unfähigkeit, mit der neuen Situation politisch umzugehen. Ich denke, daß wir uns weltweit auf völlig neue Zusammenballungen von Menschen, von Minderheiten, von Völkern einrichten müssen. Die industrialisierten Zonen in der Welt — vor allem die der westlichen Hemisphäre — werden Zielgebiet einer in Zahlen nicht anzugebenden Flucht und Zuwanderung sein. Ich glaube, daß ein Modell künftig unsere Gesellschaften prägen wird: die — vielleicht illusionäre — Hoffnung von Millionen Menschen, in den Gebieten der Demokratie und der Hochindustrie noch eine Chance zum Überleben zu haben.

Das würde aber kaum vorstellbare Veränderungen unserer Lebensbedingungen zur Folge haben. Ist nicht angesichts der möglichen Dimension der Fluchtbewegungen auch in den wohlmeinendsten Staaten eine Politik der Abschottung gerechtfertigt?

Das ist eine rein theoretische Frage. Die Entwicklung wird über uns hinweggehen, sodaß wir nur noch versuchen können, mit der neuen Situation zurechtzukommen. Ich gehe davon aus, daß die Mentalität vom Leben auf einer privilegierten Insel, die gerade auch in der Bundesrepublik gepflegt worden ist, total aufgegeben werden muß. Schneller als wir es eigentlich gedacht haben, kommen wir in eine Situation des Teilens, die alles Bisherige in den Schatten stellen wird. Ich befürchte allerdings, daß wir dies kaum leisten werden.

Die gegenwärtigen Veränderungen setzen aber auch ein Umdenken bei denen voraus, die sich bisher in dieser Frage engagiert haben. Wie müßte so ein Umdenken aussehen?

Ja sicher. Ich denke wir müssen Politik künftig als Weltinnenpolitik betreiben. Das heißt, das, was auf uns zukommt, ist nicht mehr mit Kommunalpolitik, Landes- oder Bundespolitik zu bewältigen. Der Ruf der osteuropäischen Staaten, die KSZE-Konferenz für das Thema Ost-West-Migration in Anspruch zu nehmen, ist bereits ein Aufschrei, daß die einzelnen Nationen mit den auf sie zukommenden Fragen nicht mehr fertig werden.

Ich glaube, daß die Frage der Zuwanderung und Zuflucht in die westlichen Länder einen politischen Rang hat wie die Frage der Bewältigung der Golf-Krise. Wir von „Pro asyl“ haben bisher immer versucht, die Bevölkerung hinsichtlich der Zufluchtszahlen zu beruhigen. Das war bis vor zwei, drei Jahren auch berechtigt. Aber wir müssen uns auf eine neue Lage einstellen, die ich von der politischen, menschlichen und psychologischen Leistung her vergleichen möchte mit der Zuflucht der 15 Millionen Menschen, die nach dem 2. Weltkrieg aus den ehmaligen deutschen Ost-Gebieten in den Westen Deutschlands gekommen sind.

Das bedeutet allerdings eine völlig neue Dimension von Politik und von Konfliktlösungsstrategien. Ich befürchte , daß wir auf längere Zeit einer ungeheuren Abwehr und Fremdenfeindlichkeit entgegen gehen werden. Die sich solidarisierenden Kräfte, Gruppen, Initiativen und Parteien könnten dabei selbst in eine Zerreißprobe geraten. Dabei müßten sie eine neue Dimension der Solidarisierung einleiten. Wir werden in Zukunft viel stärker auch als einzelne gefragt sein, die mit beispielhaften Solidarisierungen bis ins eigene Leben hinein Zeichen setzen. Ich selbst gehe allerdings davon aus, daß diejenigen, die sich mit zufluchtsuchenden Menschen solidarisieren, in eine Dissidentenrolle geraten könnten.

Interview: Vera Gaserow