Transzendentales Gänseblümchen

■ Rainer Kirbergs „Schatten im Zenit“, um 22.30 Uhr, ZDF

Seit seiner neoexpressionistischen Stilposse Die letzte Rache von 1982 (Musik: „Der Plan“) und seinem Grottenolm von 1985 gilt Rainer Kirberg als Geheimtip. Seine Filme erscheinen auf den ersten Blick verschnörkelt wie gotische Schrift. In den seltsamen Interieurs, eine Mischung aus sozialistischer Bürokultur und dreißiger Jahre Science-fiction stehen hölzerne Telefone, hängen seltsame Schlüsselbretter. Zuweilen wirken die Sets verquast wie surrealistische Sandburgen, verwinkelt wie die Seitengassen aus Wienes Das Kabinett des Dr. Caligari. Die Filmbilder könnten auch von dem Schweizer Maler H. R. Giger sein, falls der einmal mit guter Laune gemalt hätte.

Kirbergs Filme sind eine Art Intellektuellen-Fantasy, eine Mischung aus einer Edgar-Allan-Poe- Adaption von Roger Corman und einem Herbert-Achternbusch-Film. Er schreibt Film und Dialoge selbst. Das wirkt so eigentümlich und überzogen wie Alfred Edel. Die Sujets kreisen um parawissenschaftliche Experimente und um die scheiternde Selbstfindung hybrider Wissenschaftler.

Dr. Samuel Falb (Christof Eichhorn) ist so eine besessene Grübelnatur. Er wohnt in einem Turm, der so hoch ist, daß nicht einmal Sigmund Freud sagen könnte, ob das noch ein Turm ist oder schon ein Symbol. Falb ist eine Koryphäe auf dem Gebiet der Molekularbiologie. Als sich in einer jener arbeitsreichen Nächte ein geheimnisvoller Fremder mit der Probe eines unbekannten Organismus Eintritt in Falbs wissenschaftliche Enklave verschafft, kommt dessen wohlgeordnete Weltbild ins Schwanken.

Anselm Hogoven (Wolfgang Dehler) führt den jungen Wissenschaftler zu einem abgelegenen Landhaus, wo dieser bemerkt, daß das Interesse des nächtlichen Besuchers nicht ganz uneigennützig ist. Die extraterrestrische Pflanze, die ausschaut wie eine Mischung aus Papierblume und DNS-Spirale, ist nämlich krank. Falb, sofort fasziniert von dem schwanenhaften ET- Gemüse, soll ihr exotisches Leben retten. Ohne sein Labor und seine hilfreichen Instrumente auf sich selbst zurückgeworfen, arbeitet er bis zur Erschöpfung an der Enträtselung des geheimnisvollen Organismus'.

Jonathan (Hans-Peter Minetti), ein alter, mit jugendlicher Inbrunst in seine Phantasien verstrickter Mann, hat dem Wesen einen Namen gegeben. Er spricht mit Laetitia wie mit einer dieser schwierigen Frauen, die sich in den amerikanische Spielfilmen immer im Bad einschließen. Mit dem Unterschied, daß Jonathans Monolog über „die weißen Küsten des Todes“ etwas philosophischen Überhang hat.

Nach einer gewissen Zeit sondert Laetitia eine maultaschengroße Frucht ab, über deren Inhalt sich Jonathan gierig hermacht und befriedigt abzieht. Falb kommt hinter das Geheimnis Hogovens, der aus Laetitias Früchten einen lukrativen Superstoff namens „Teufelstränen“ destiliert. Entsetzt spricht Falb mit Jonathan, aus dem kein vernünftiges Wort herauszubekommen ist. Am Ende der partiturartigen Wortgirlanden Jonathans reift in Falb die Ahnung, daß er mit seiner Wissenschaft an Laetitia ebenso scheitern wird wie der alte Spinner mit seiner seltsamen Liebe. Vielleicht besteht in diesen beiden Formen des Zugangs gar kein Unterschied? „Du wirst Laetitia retten, und darüber stirbt deine Wissenschaft“, orakelt Jonathan.

Irritiert nascht Falb selbst an den Früchten Laetitias und gibt sich erst einmal die Überdosis. Aus der totalen Verwirrung des Molekularbiologen schält sich am Ende die simple Einsicht heraus, die da heißt: Gänseblümchen. All seine Bemühungen, seine Wissenschaft war nichts als der komplizierte Umweg, an dieses transzendentale Gänseblümchen heranzukommen, das er jetzt mit aller Verzückung vor sich auf der Wiese erblickt. Jetzt erkennt er auch, daß Laetitias Früchte „biochemische Kommunikationseinheiten“ sind, deren Dechiffrierung Melodien ergeben. Der melancholische Gesang des Unkrauts bedeutet: Es fühlt sich alleine!

Gelingt es Falb, die Pflanze zu retten? Welche Botschaft hält sie bereit? Stehen nicht alle unter dem Einfluß der seltsamen Droge? Fragen, auf die die Wissenschaft keine Antwort hat. Manfred Riepe