Scheibengericht

■ Marlene Dietrich/ Mory Kante/ Kurt Weill/ Theodor W.Adorno

MARLENE DIETRICH

Die frühen Aufnahmen

Preiser Records/Fono Münster Mono 90032 (CD)

Die Verbesserungen der Aufnahmetechnik durch die Einführung des elektrischen Aufnahmeverfahrens um 1925 waren wohl eine Voraussetzung für den Popstar im modernen Sinne. Sie führten wie der etwas später entstehende Tonfilm zu einer Verkleinerung der Gestik — der Stummfilm mit seinen unterstreichenden und pantomimischen Gebärden war ja wie die frühen akustischen Grammophonaufnahmen der Oper noch viel näher. Die Verstärkung des Tons, die noch bis vor kurzem eine Angelegenheit der Stimme selbst gewesen war, der Gesangstechnik, wurde nunmehr ganz von der Apparatur besorgt. Marlene Dietrich konnte mit Sprechstimme singen, und die Flexionen ihres Gesangs wirkten umso erotisierender, als sie „realistischer“ waren, kleiner eben, weniger künstlich und trainiert als die des Operngesangs, der noch ohne Mikrophon und Lautsprecher auskommen mußte.

So entstand die falsche Intimität der Popmusik, die ferner ist als je ein Opernsänger sein konnte, weil es sie nur reproduziert und projiziert gibt, das „Du“ des Schlagers, durch das sich nicht mehr eine andere dramatis persona, sondern jeder und jede apostrophiert fühlen soll und das den wenig modernen Professor Unrat im Blauen Engel symbolisch zugrunderichtet — man darf es eben nicht wörtlich nehmen. Typisch, daß Lola ihn sogar ausdrücklich vor sich gewarnt hat: „Nimm dich in Acht vor blonden Frau'n,/Sie haben so etwas Gewisses./S'ist ihnen nicht gleich anzuschau'n,/Aber irgendetwas ist es./ Ein kleines Blickgeplänkel sei erlaubt dir,/Doch denke immer: Achtung vor dem Raubtier!“

Bedenkt man, wie witzig die Reime sind, wie grausam die Pointen, wie verführerisch Marlene Dietrichs vokale Gimmicks, Chromatismen und Glissandi, ja selbst ihre Unsicherheiten in der Intonation, wie geistreich und virtuos die Begleitung der Jazzbands unter Friedrich Holländer und Peter Kreuder, so ist man wirklich bestürzt darüber, daß die Schlager aus dem Blauen Engel seit über zehn Jahren und die anderen Schlager gar seit ihrer Entstehungszeit nicht in der Originalfassung greifbar waren. Ein sträfliches Versagen der Kulturindustrie, das nun endlich wiedergutgemacht ist. Es sind wirklich Standardwerke der Popmusik — plötzlich wird deutlich, in welche Tradition sich etwa eine Madonna einreiht, ohne daß sie es selbst vielleicht weiß. Schön auch die beiden Marlene-Dietrich-Fotos auf dem Cover der Platte. Man braucht nur das linke Foto zu betrachten, dann ganz kurz das rechte und dann wieder das linke und hat schon einen kleinen Stummfilm.

MORY KANTE

Touma

Barclay/Metronome 843 702-1 (LP)

Die beste Funk-Musik kommt längst aus Afrika, wo sie ja eigentlich sowieso herkommt. Mory Kante, Griot aus Guinea, hat sein neues Album ein paar Wochen nach seinem Konkurrenten Youssou N'Dour, Griot aus dem Senegal, herausgebracht. Beide Alben verschneiden die afrikanische Tradition mit den Mitteln der modernen westlichen Popmusik, kein Zufall wohl auch, daß auf beiden Alben kein einziges Stück Single-Länge überschreitet.

Aber Youssou N'Dour disponiert souveräner mit diesen Mitteln. Man muß sich nur die Single-Auskoppelungen der beiden Alben anhören, Mory Kantes Bankiero und Set aus Youssou N'Dours gleichnamigen Album (Virgin LP 210982-630), beides Up Tempo- Stücke mit über 120 Schlägen pro Minute. In Bankiero ist alles ganz schnell da: Kora — die westafrikanische Harfe — und Marimbaphone machen den Groove, dann kommen die Bläser, Baß und Percussion, dann Mory Kante und die Backgroundsängerinnen. Das Muster wird blockhaft wiederholt, mit den immergleichen Verzögerungen vor dem Einsatz der Strophe, die den Groove betonen sollen. Auch Set besteht in der Wiederholung eines strophischen Musters, nur daß es nicht gleich komplett da ist, sondern sich erst im Lauf des Stücks zusammensetzt. Von Wiederholung zu Wiederholung steigert sich die Impulsdichte, das Stück kommt gewissermaßen nie ganz zu sich, und gerade das gibt ihm das Treibende. Der Bläsereinsatz ist so elektrisierend, weil er überhaupt erst nach zwei Minuten stattfindet, als schon gar nicht mehr damit zu rechnen war. Kurz darauf wird das Stück zum Bedauern der Tanzenden abgeblendet. Bankiero — immerhin auch ein sehr tanzbares Stück — wirkt dagegen ein bißchen dick und überproduziert.

KURT WEILL

Die Dreigroschenoper

Historische Originalaufnahmen

Lotte Lenja, Harald Paulsen, Lewis Ruth Band, Theo Mackeben, Otto Klemperer u.a.

Capriccio/Delta 10364 (CD)

KURT WEILL

Die Dreigroschenoper/Berlin 1930

Originalaufnahmen mit Lotte Lenya, Kurt Gerron, Curt Bois, Marlene Dietrich, Lewis Ruth Band, Theo Mackeben u.a.

Teldec 9031-72025-2 (CD)

Ein himmelweiter Unterschied. Während die Capriccio-Überspielungen an keiner Stelle leugnen, daß sie auf alten, teils zerkratzten Platten beruhen — die übrigens nicht selten mit großem Risiko durchs Dritte Reich in die Gegenwart geschmuggelt wurden —, sind die Originale bei den Teldec-Überspielungen derart radikal von Nebengeräuschen befreit und mit Hall versehen worden, daß sie nun in geradezu peinlicher Blöße daliegen. Das Rauschen war nunmal das Hindernis, gegen das sich die Musik auf damaligen Platten durchsetzen mußte und auf das sie berechnet war. Nimmt man ihr dies Hindernis, dann wirkt sie so deplaziert wie Messner im Sessellift. Es ist auch nicht wahr, daß Rauschunterdrückung nicht zu musikalischen Einbußen führte. Gerade den menschlichen Stimmen oder auch den zickigen hohen Klarinetten, die in den zwanziger Jahren vielleicht nicht von ungefähr in Mode waren, werden Schärfe und Glanz genommen, die zwar gegen das Rauschen nur durchscheinen, aber eben ganz wegfallen, wenn es eliminiert wird. Sie werden stumpfer, matter.

Trotzdem kann man nicht einfach von der einen Platte zugunsten der anderen abraten. Inhaltlich ergänzen sie sich nämlich. Die Teldec rückt den von Weill und Brecht 1930 gewisermaßen offiziell herausgegebenen Ultraphon-Querschnitt auf vier Schellackplatten in den Vordergrund. Es singen und spielen im wesentlichen Mitglieder des Uraufführungsensmbles vom Theater am Schiffbauer Damm. Hinzukommen ein paar französische Dreigroschenoper-Einspielungen, Weills Alabama-Song, zwei Schlager von Marlene Dietrich, einer von Curt Bois und die Ballade vom Seemann Kuttel Daddeldu von Ringelnatz, gesungen von Kurt Gerron.

Capriccio konzentriert sich ganz auf die Dreigroschenoper, verzichtet aber, bis auf zwei Aufnahmen mit Lotte Lenya, auf die Ultraphon- Platten, die auf dem Markt noch am längsten erhältlich waren, und wählt „nicht autorisierte“ Platten, die aber ebenfalls von Mitgliedern des Original-Ensembles eingespielt wurden.

Die Teldec bietet durch den Ultraphon-Querschnitt einen repräsentativeren Eindruck. Allerdings mochte Brecht bei diesen Platten nicht auf eingesprochene Texte verzichten, die die Hörer in die dramatische Situation einweisen sollen. Dafür mußten die Songs seinerzeit oft um die Hälfte gekürzt werden. Bei Capriccio gibt es weniger Songs, aber dafür in voller Länge und in unterschiedlichen Versionen, unter anderem in den Instrumentalfassungen der originalen Dreigroschenband unter Theo Mackeben und der Kapelle der Staatsoper Berlin unter Otto Klemperer. Bei Teldec gibt es mehr Lotte Lenya zu hören, die als Seeräuber- Jenny nicht zu übertreffen ist. Capriccio hat stattdessen mehr Harald Paulsen zu bieten, der auch schon 1928 zum Uraufführungsensemble gehörte und einen entschieden bissigeren Haifisch abgibt als Kurt Gerron bei Ultraphon/Teldec. Im Capriccio-Beiheft fehlen bedauerlicherweise die Songtexte.