Debakel bei den Grünen

■ betr.: Kommentare und Berichte taz vom 4.12.90

betr.: Kommentare und Berichte, taz vom 4.12.90

[...] Etwa drei Millionen Menschen, denen es mit jeder Wahl schwerer fällt, ihre Stimme den Grünen/ GAL/AL zu geben, es aber mangels besserer Alternativen wieder getan haben, fehlt jetzt die Stimme im Bundestag. [...]

Warum ist es so schwer geworden? Warum blieben viele den ganzen Sonntag niedergeschlagen zu Hause? Zwei strukturelle Gründe scheinen mir ganz wichtig:

Erstens ist die Geschichte der Grünen und ihr Aufschwung in den Achtzigern mitgeschrieben worden von Personen, die klare Aussagen machen, Frauen und Männern, von denen wir wußten, wofür sie stehen, zum Beispiel für radikale Ökopolitik, offensive Einwandererpolitik, für Hausbesetzung, gegen Bundeswehr, Nato, Atom und so weiter. Sie stritten dazu mit klaren, merkfähigen Aussagen, machten Gegner sprachlos und waren dafür unverwechselbar. Wo waren diese Leute auf den Wahllisten? Einige sind bei der SPD, andere traten aus und bringen destruktive Sprüche; doch es sind genügend übrig. Es war mir immer sympathisch, hat immer Spaß gemacht, ihnen zuzuhören und sie zu wählen. Es macht keinen Spaß, einen streitenden Haufen zu wählen, aus dem keine intelligenten Aussagen zu vernehmen sind!

Zweitens vermisse ich bei vielen der Grünen klare Äußerungen, für welche Menschen sie eigentlich antreten und sich einsetzen. „Klimakatastrophe“ — richtig, aber es gibt haufenweise Probleme, denen die Menschen unmittelbar gegenüberstehen. Klimakatastrophe heißt zuerst: Smog, Autoverkehr, verdreckte Flüsse und so weiter. Andere Themen gibt es genug: Schlagworte wie Bildungs- und Wohnungsnot, Paragraph 218 stehen für konkrete, menschliche, persönliche Probleme. Politik muß sich direkt an den Betroffenen orientieren (und das Werben um eine Politik direkt an sie richten), nicht über drei Ebenen abstrahiert.

Wenn die AL in Berlin die Koalition kündigt, den Polizeieinsatz verurteilt, so ist das in Ordnung, wenn sie sich aber auf der anderen Seite von der Gewalt der Besetzer — und damit von den Besetzern selbst— distanziert, so ist sie unglaubwürdig und isolierend. Wohltuend war da die Aussage von Ströbele: „Hier gibt es Menschen, die mit ihren Lebensverhältnissen nicht zurechtkommen...“. Dies ist ein Satz, der für die Menschen spricht, für jene, die wählen sollen und die zu Recht einen Anspruch auf parlamentarische Vertretung haben (und dies nirgends sehen können).

In Hamburg gibt es eine Frauenliste — wie viele Frauen fühlen sich mit ihren Interessen in der Bürgerschaft vertreten? Wo sind kompetente Leute, die von und mit Drogenabhängigen und Alkoholikern reden? Und so weiter. Ich vermisse die Äußerungen für die Menschen; in Hamburg äußern sich jedenfalls die GAL-Angehörigen höchstens zu sich selber oder ihren Splittergruppen, nicht aber zu den Problemen der Menschen hier — von diesen sind sie unerreichbar entfernt.

Kompetenz läßt sich immer nur mit einzelnen verbinden, eine kompetente Organisation kann es mit dezentraler Struktur nicht geben. Organisationsentwicklung und Hierarchie müssen keine Reizwörter sein, wenn einige Grundsätze beachtet werden, zum Beispiel: Jeder ist sein eigener Experte, und jeder handelt autonom. Also bitte diejenigen an die Spitze, die das können und wollen, diejenigen an die Basis, die das können und wollen, und weg mit denen, die ideologische Phrasen dreschen, welche keine/n mehr interessieren.

Ich fühle mich mit meiner Stimme verarscht, und das wird kein zweites Mal passieren. Verarschen tue ich mich lieber selber und wähle beim nächsten Mal nicht mehr. Michael Dick, Wähler, Hamburg