„Nicht Japan muß sich ändern, die Welt muß Japan folgen“

Tokios Manager träumen von der gesellschaftlichen Ausstrahlung Nippons/ Die Schattenseiten des Japanmodells bleiben oftmals unbeachtet: 30.000 Menschen sterben in der Arbeitswelt den Streßtod/ Aggressive Export-Industrialisierung Ostasiens durch unabsehbare ökologische Folgekosten erkauft  ■ Aus Tokio Georg Blume

„Für den Westen und alle anderen ist Japan eine neue Welt. Und zudem ist Japan eine rationale Welt“ — zu solch gewichtigen Worten serviert Hirohiko Okumura, Leiter des renommierten Tokioter Forschungsinstituts „Nomura Research“, mit eigener Hand den Tee. Seiner außergewöhnlichen Geste ist er sich durchaus bewußt. Der international bekannte Ökonom sieht sich und sein Land in einer wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Vorreiterrolle.

„Nachts“, so Okumura „sind die Straßen in Tokio so sicher wie in keiner zweiten Welthauptstadt. Kriminalität existiert praktisch nicht. Spricht man mit den Angestellten in den Betrieben, so sind sie mit ihrer Arbeit glücklich. Die Unternehmer und Manager aber verausgaben sich für die Firma wie für ihre Untergebenen. Die meisten von ihnen scheuen sich nicht einmal, gelegentlich auch die Dienste einer Sekretärin zu verrichten.“ Der Wirtschaftswissenschaftler zeichnet ein nahezu vollkomenes Bild vom Japanmodell.

Seit Nippon im Innern vor Selbstvertrauen und Zuversicht strotzt, ist es für die Außenwelt nicht einfacher geworden, sich die japanische Erfolgsgesellschaft zu erklären. Zumal die inneren Widersprüche des Kaiserreiches — ob zwischen Mann und Frau, Land und Stadt, Arm und Reich, — in der Regel für ausländische Betrachter kaum ins Gewicht fallen. Im internationalen Vergleich zählt nur Japans Erfolg. Und der macht das Land anziehend.

Zwanzig Jahre ist es her, da zeihte der französische Journalist Servan Schreiber die Europäer der wirtschaftspolitischen Tagträumerei. Seine damals Aufsehen erregende Streitschrift nannte er: Die amerikanische Herausforderung. Servan Schreiber konstatierte die ökonomische Dominanz der USA in den sechziger Jahren anhand dreier Dinge: grundsätzliches Einverständnis und Kooperationsbereitschaft zwischen Regierung und Unternehmen, ein diesen Erfordernissen angepaßtes Schulsystem sowie den neuen flexiblen Managementstil. Heute scheint es, daß Japan für den Beginn des 21. Jahrhunderts auf genau diesen drei Ebenen eine Vorsprung errungen hat. In Tokio stimmen Parteien, Unternehmerverbände und Ministerien ihre Entscheidungen aufs genaueste miteinander ab. Das Schulsystem der Nation gilt als das disziplinierteste der Welt, und das japanische Management gewinnt seine außergewöhnliche Leistungskraft durch die bisher unnachgeahmte Einbeziehung sämtlicher Mitarbeiter in Entscheidungsprozesse der verschiedenen Ebenen.

Wirtschaftsforscher Okumura zieht einen einfachen Schluß: „Nicht Japan muß sich ändern, sondern die Welt muß Japan folgen.“ Ein Großteil von Nippons Managern teilt diese Auffassung. „Wir denken, daß Japan wichtige Erfahrungen beim Wiederaufbau nach dem Krieg gemacht hat, die es jetzt an die Länder Osteuropas weitergeben kann“, bemerkt Hideo Ishihara, Vizepräsident der „Industrial Bank of Japan“, eine Geldinstitut, das bereits im Nachkriegsjapan die Interessen von Großindustrie und Regierung koordinierte. Natürlich eine Weitergabe von Wissen, die nicht auf einem reinem Altruismus beruht. Ishihara: „Osteuropa braucht Managementtraining und Computer-Know-how. In beidem ist Japan führend.“

Besser als der Westen es jemals vermochte, können Nippons Wirtschaftsführer auf beeindruckende Entwicklungserfolge für ärmere Länder verweisen, die dem exportorientierten Beispiel Japans folgten. Die „kleinen Tiger Asiens“, Südkorea, Honkong, Taiwan und Singapur waren die wirtschaftlichen Überraschungssieger der achtziger Jahre. Ein Erfolg, von dem auch das Modelland etwas hat: Noch heute arbeitet ein Großteil der Betriebe in diesen Ländern unter japanischer Lizenz.

Doch das japanische Beispiel hat in der Theorie mehr Vorzüge, als sich in der Wirklichkeit mit anderen Ländern umsetzen lassen. „Das japanische System ist einzigartig. Es ist nicht Buddhismus, und es ist nicht Konfuzianismus“, stellte schon die bekannte US-amerikanische Anthropologin Ruth Benedict fest. „Es ist japanisch — und darin liegt sowohl die Stärke wie die Schwäche Japans.“ Der Politologe Masao Maruyama gibt in einem 'Spiegel‘-Interview zu bedenken: „Seinen wirtschaftlichen Erfolg verdankt Japan zum größten Teil den japanischen Sitten, den japanischen Verhaltensregeln und den japanischen zwischenmenschlichen Beziehungen.“ An diesen Sitten und Regeln stoßen sich Gegner des Japanmodells.

„In der ganzen Welt lobt man die japanische Industrie. Unser Managementsystem wird in alle Länder exportiert. Aber die Probleme am Arbeitsplatz werden grundsätzlich verschwiegen“ — Rechtsanwalt Hiroshi Kawahito, Vorsitzender des „Nationalen Netzwerkes gegen den Erschöpfungstod am Arbeitsplatz“, stapelt vor sich die Untersuchungsberichte über Arbeiter und Angestellte in Japan, denen aufgrund von Dauerstreß und Überarbeitung das Herz stehen blieb. „Die Leute rennen bewußt in den Tod. Aber sie können ihren Lebenswandel nicht ändern, weil die Unternehmermoral es ihnen nicht erlaubt.“ Kawahito spricht von jährlich 30.000 Herz- und Gehirntoten, als deren Todesursache überlange Arbeitszeiten diagnostiziert wurden. Diese Beschäftigten arbeiteten 3.000 Stunden im Jahr, also fast das doppelte der geregelten Arbeitszeit in Europa.

Neben Gewerkschaftern bekämpfen vor allem Umweltschützer das Japanmodell. „Umweltschützer aus aller Welt müßten die japanische Sprache lernen, aus ihrem ureigenen Interesse heraus“, sagt Manami Suzuki, langjährige Aktivistin der japanischen Anti-AKW- und Umweltbewegung. Die Japaner sind weltweit die größten Tropenholzkonsumenten. Das Land ist führender Handelsplatz für vom Aussterben bedrohte Tierarten. Inzwischen aber entzieht sich die Tokioter Regierung der internationalen Kritik, indem sie — als Beispiel für den Westen — zum ersten Geberland bei der Entwicklungshilfe aufgerückt ist und Milliardenprogramme für den weltweiten Umweltschutz in Aussicht stellt.

Das meiste Geld aus Tokio fließt dabei in industrielle Großprojekte japanischer Konzerne. Bislang gab es keinerlei staatliche Richtlinien für den Einsatz von Entwicklungshilfe. Studien über soziale und ökologische Folgen wurden nie erstellt. „Die Aufstockung der japanischen Entwicklungshilfe kann tatsächlich eine bedeutsame Vermehrung der Umweltzerstörung und den Verlust von natürlichem Lebensgebiet rund um die Erde bedeuten“, warnt Jonathan Holliman, Gründer von „Friends of the Earth“ und heute Leiter der Zweigorganisation in Tokio.

In den Nachbarländern Südostasiens ist Japans Ausstrahlung durchaus nicht ungetrübt. Weil japanische Unternehmen lieber untereinander als mit ausländischen Firmen handeln und so auch den Binnenmarkt verschlossen halten, werden nur etwa zehn Prozent des ostasiatischen Handels in Yen abgewickelt. „Kein Führer im Osten begrüßt den Yen-Block. Das wäre ein Schritt rückwärts“, meint Singapurs langjähriger Regierungschef Lee Kuan Yew. Die Länder Ost- und Südostasiens, obwohl darauf bedacht, Japans ökonomische Erfolge zu wiederholen, wehren sich gegen seine wirtschaftspolitische Führungsrolle in der Region. Eine nach europäischem Modell gestaltete Staatengemeinschaft Ostasiens unter japanischer Führung bleibt auf lange Sicht undenkbar, obwohl die Nationen im Westpazifik bereits 40 Prozent ihres Welthandels untereinander bestreiten; für das Jahr 2000 erwartet das Nomura Forschungsinstitut gar 55 Prozent sein.

Die Japaner selbst tragen viel dazu bei, daß sich die Skepsis im Ausland gegenüber ihrem Modell aufrecht erhält. „Japaner haben ihre Nation immer von einer unverläßlichen und launenhaften Welt umgeben gesehen und gefürchtet, sie könne Opfer unkontrollierbarer ausländischer Kräfte sein“, äußerte jüngst der niederländische Journalist Karel van Wolferen in der US-Zeitschrift 'Foreign Affairs‘. Weniger denn je, so glaubt van Wolferen, wäre Nippons Regierung heute bereit, Kritik aus dem Ausland anzunehmen. „Der neue arrogante Geltungsdrang und der Unwille, Verständnis für die Betrachtungsweise anderer Länder gegenüber Japan aufzubringen, erinnert heute viele Beobachter an die dreißiger Jahre.“

Den Nomura-Chef Hirohiko Okumura können solche Einwände freilich nicht erschüttern. Es komme nicht darauf an, wer Japan folgen wolle, sondern wer Japan aufgrund seines ökonomischen Vorsprungs folgen müsse. Kein Wunder also, daß viele schwanken, wenn sie zwischen Japan als Vorbild oder als Bedrohung unterscheiden sollen.