Zu lange an die Unverletzbarkeit geglaubt

Nach der Wahlniederlage der Grünen häufen sich gegenseitige Schuldzuweisungen und Reformvorschläge der Parteiströmungen/ Warnzeichen wurden viel zu lange übersehen/ Ob die „Instandbesetzung der Partei durch die Gesellschaft“ (Antje Vollmer) gelingt, ist im Augenblick noch völlig offen  ■ Aus Bonn Gerd Nowakowski

Kennzeichnet es nicht die Situation der Grünen, daß selbst eine Analyse der Stimmenverluste keine eindeutige Antwort über die Gründe des Wahldebakels liefert, sondern nur neue Munition für den innerparteilichen Streit? Die 600.000 WählerInnen, die im Vergleich zu 1987 zur SPD abwanderten und jene 140.000, die diesmal sogar bei der CDU ihr Kreuzchen machten, lasten die realpolitischen Kräfte den Linken in der Partei an. Die Radikalökologen wiederum deuten, auch wenn die Linke Liste/PDS keinerlei Stimmen abgezogen hat, auf die Rechtsentwicklung der Grünen, von der 270.000 StammwählerInnen am 2.Dezember abgeschreckt worden und gar nicht erst zur Wahlurne gegangen seien.

Eines ist jedoch bemerkenswert: Ginge es nach der Anzahl der Erststimmen, wären die Grünen glatt wieder im Bundestag vertreten. Es drängt sich auf, aus diesem Mißverhältnis zu schließen, daß damit die konkrete Arbeit vor Ort honoriert, die zerrüttete Gesamtpartei dagegen abgelehnt wurde. Denn wer nicht weiß, ob er mit seiner Zweitstimme nun die Partei einer Jutta Ditfurth oder die eines Joschka Fischer befördert, malt wohl lieber woanders sein Kreuz.

Auch nach dem Schock: Der Streit geht weiter

Die innerparteilichen Kontrahenten fühlen sich dadurch nicht gestört. Jedes Lager trägt sein Erklärungsmodell für die Niederlage wie ein Banner in den voll entbrannten Strömungsstreit über die Zukunft der Partei. Das Bewußtsein, die Partei als Ganzes habe nun endgültig den Bonus verspielt, den ihr die WählerInnen immer wieder zubilligten, ist bei nur wenigen vorhanden. Die verheerende Niederlage hat nicht zur Einsicht verholfen, daß der Situation nicht mit gegenseitigen Schuldzuweisungen beizukommen ist, sondern gemeinsam verantwortet werden muß.

Nach zehn Jahren verhalten sich die Grünen wie in einer zerrütteten Ehe. Die „Schuldfrage“ ist längst nicht mehr zu klären. Alle haben ihr Teil zum Debakel beigetragen, auch wenn das von allen Seiten empört zurückgewiesen wird. Nach dem Schock der Wahlnacht aber wird der alte Streit weitergeführt, als sei nichts passiert. Es ist nicht zuletzt diese unerbittliche Rechthaberei unter den Grünen, die die WählerInnen anwidert.

Niemand hatte in der Partei ernsthaft mit dem Absturz unter die Fünfprozenthürde gerechnet; doch Warnzeichen gab es genug. Für die Blindheit vor dieser Entwicklung mag das Gefühl mitverantwortlich gewesen sein, man habe als Totgesagte schon so oft überlebt, daß die Partei an die eigene Unverletzbarkeit glaubte. Die letzten zwölf Monate belegen im nachhinein, wie die Grünen ihre Zeit vertan haben.

Anfangen ließe sich mit dem Perspektivenkongreß in Saarbrücken, zwei Wochen nach dem Fall der Mauer im November 1989. Während die stalinistische DDR und der gesamte Ostblock zusammenbrachen, ließ sich die Partei von den Linken eine absurde Schlacht um die Ehrenrettung des Sozialismus aufzwingen. Statt Perspektiven aufzuzeigen, verabschiedeten sich die Grünen in einer Zeit radikaler Umwälzungen aus der Realität. Gleichzeitig begann das monatelange Tauziehen um ein Zusammengehen mit der PDS, das erst im Spätsommer mit dem Weggang eines Teils der Linken sein Ende fand.

Erinnert werden kann an den mediengerechten Crash vom Januar zwischen den beiden Vorstandsprecherinnen aus Realo- und linkem Lager anläßlich des zehnjährigen Geburtstags der Partei — Höhepunkt einer an quälender Bösartigkeit kaum zu überbietenden Vorstandstätigkeit. Das kokettierende Geburtstagsmotto, „Streit ist im Verein am schönsten“, bestätigte nur eine Haltung, bei der die Außenwelt längst aus dem Blick geraten war.

Alle Warnzeichen, die die WählerInnen aussandten, wurden konsequent übersehen. Bei den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen übersprangen die Grünen nur mit wenigen tausend Stimmen mühsam die Fünfprozenthürde. Dennoch wurde dies als Sieg gefeiert — wie auch in Niedersachsen. Der Parteiapparat registrierte nur die Regierungsbeteiligung in Hannover, über die schweren Stimmenverluste ging man hinweg.

Kein Verhältnis zu den deutsch-deutschen Umwälzungen

Der Hagener Parteitag im April brachte die Grünen näher an den Rand der Spaltung als jemals zuvor. Das Bündnis aus „Aufbruch“ und Realos versuchte, die Partei vom Neuaufbruch als radikalökologisches Projekt jenseits des zusammengebrochenen Sozialismus zu überzeugen. Das Motto, „raus aus den veralteten Strömungsschützengräben“, wurde aber derart mit der Brechstange vorgetragen, daß die Delegierten darin nur die alte Machtkiste sehen konnten und sich verweigerten.

Zwar gelangte die Partei nach monatelanger Debatte zumindest dahin, die sich anbahnende Einheit, wenn auch nicht gutzuheißen, so doch wenigstens als Willen der Menschen zu akzeptieren. Ein wirkliches Verhältnis zu den deutsch-deutschen Umwälzungen aber hat die ideologischste und zugleich mit dem größten Beharrungsvermögen ausgestattete deutsche Partei bis heute nicht entwickelt — man stellt sich der Frage lediglich aus der Notwendigkeit heraus. Auch wenn sich die Linke dabei besonders schwertat, sind die realpolitischen Kräfte nicht schuldlos an der Misere. Der „Aufbruch“ hat den Parteitagsbeschluß durchgesetzt, die drohende Klimakatastrophe in den Mittelpunkt des gesamtdeutschen Wahlkampfes zu stellen.

In gewohnter Zeigefingerhaltung wurde damit signalisiert, daß man die derzeitigen Sorgen und Befürchtungen der Menschen in beiden Teilen Deutschlands ignorieren werde. Zu nennen sind auch die unsinnigen Gedankenspiele aus dem „Aufbruch“-Lager über die deutschen Großmachtspflichten am Golf.

Ein Burgfrieden, angesichts des nahenden Wahltermins im Sommer zwischen Realos und dem pragmatisch orientierten „Linken Forum“ geschlossen, sorgte zwar oberflächlich für Beruhigung der aufgewühlten Partei, kam aber viel zu spät, um das negative Urteil in der Außenwahrnehmung noch umzukehren. Als letzte Warnung, die zumindest in Teilen des Bundesvorstands für Beunruhigung sorgte, kann die Landtagswahl im Oktober in Bayern gelten. Trotz einer für Grüne guten Basisarbeit und günstigen politischen Konstellationen baute die Partei leicht ab.

Mancher bemerkte erstmals, daß Proteststimmen gegen die herrschende Politik nicht mehr automatisch auf das grüne Konto gehen. Die Zeiten sind andere geworden. Das Thema Frieden und Abrüstung hat sich für große Teile der Bevölkerung erledigt, die Ökologie wird auch in anderen Parteien betont. Vor allem aber glaubt den Grünen niemand mehr, sie könnten mit ihrer transzendierten Bauchnabelperspektive außer radikaler Rhetorik praktische Politik produzieren.

Da klingt denn die Klage der Grünen, man habe doch die richtigen Themen für die Zukunft, nur noch hilflos. Sie verkennt auch, daß die in ihren Reihen vorhandene Kompetenz, gute Sacharbeit und Konzepte längst vom Dauerstreit überdeckt und von außen nicht mehr wahrgenommen werden.

Hat die Niederlage also ihr Gutes, weil sie die Partei zwingt, endlich überfällige Häutungen zu vollziehen? Eine Strukturreform wird es geben. Das aber war bereits vor dem Wahlfiasko für die pragmatisch orientierte Linke und für die realpolitischen Kräfte klar. Wie weit diese Veränderungen gehen, und ob sie die Partei zu einer Renaissance befähigen werden, ist noch nicht absehbar. Möglicherweise kommt nur ein halbherziger Schritt nach vorn zustande: nicht so weit, wie die Realos verlangen, aber weit genug, daß der angedrohte Abschied aus der Partei nicht vollzogen wird. Es zeugt von den Illusionen in einer ausgezehrten Partei, daß das „Linke Forum“ glaubt, nach einer Grundsatzentscheidung über den künftigen Kurs könne die Partei sozusagen mittels Linienrichter jene abstrafen, die aus dem Konsens ausbrechen.

Die ideologische Verblendung ist zu verbreitet, das Argumentieren aus der linken Gefühligkeit heraus derart eingeübt, daß sich ein klarer Weg kaum finden läßt. In einer Partei, wo die Rolle des verfolgten Opfers immer noch die wirkungsvollste Inszenierung ist, werden sich die Delegierten für den Ausgleich und einen fragilen Kompromiß entscheiden. Aus der Wahlniederlage wird den Grünen kein Godesberger Programm erwachsen. Im Ergebnis wird es Austritte einzelner und eine weitere Auszehrung geben, so wie in der Vergangenheit bereits links und rechts die Ränder ausfransten — ohne daß der Streit dadurch weniger erbittert geführt wurde. Freiwillig wird keine Gruppierung die Grünen verlassen. Seit ihrer Gründung werden die Parteiströmungen schließlich vom Wissen zusammengehalten, daß nur gemeinsam die Fünfprozenthürde zu überwinden ist. Nach der Wahlniederlage gilt dies noch stärker.

Eine überlebensfähige Perspektive nach einer Trennung hätte nur der „Aufbruch“ um Antje Vollmer, die bei ihrer Vision einer ökologischen Bürgerrechtspartei auf die Bundestagsabgeordneten vom Bündnis 90/Grüne hoffen darf. Angesichts der großen Distanz zu den Denkkonstrukten der West-Grünen — Jutta Ditfurth nennt Konrad Weiss einen Reaktionär — hätte eine gemeinsame Fraktion ohnehin nur wenige Wochen gehalten.

Ganz ohne parlamentarische Präsenz aber wird der Rückweg für die Grünen noch schwerer. Auch eine Strukturreform und selbst ein gutes Abschneiden bei den Landtagswahlen in der Realohochburg Hessen im Januar wird deshalb für einen Neuanfang nicht ausreichen. Ob den Grünen die „Instandbesetzung der Partei durch die Gesellschaft“ (Vollmer) gelingt, ist ungewiß. Sicherer ist da schon die Erfahrung, daß schlechte Ehen manchmal die langlebigsten sind.