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„Man darf nicht auf Kamingespräche hoffen“

■ Wolf-Dieter Narr über die Debatte um eine neue deutsche Verfassung INTERVIEW

Am Samstag veranstaltete das „Kuratorium für einen demokratisch verfaßten Bund deutscher Länder“ in Potsdam einen Kongreß über eine neue deutsche Verfassung. Wolf- Dieter Narr, Professor am politologischen Fachbereich der Freien Universität Berlin, ist Gründungsmitglied des Kuratoriums.

taz: Was bedeutet das schlechte Abschneiden der Opposition bei den Bundestagswahlen für die Chancen für eine neue deutsche Verfassung?

Wolf-Dieter Narr: Ich glaube nicht, daß das Wahlergebnis unmittelbar etwas an den Chancen für eine neue Verfassung ändert. Denn jenseits der parlamentarischen Einflußnahme wird die Verfassungsdiskussion ohnehin nur dann eine Chance haben, wenn sie sich als Politisierung im besten Sinne des Wortes als gesellschaftliche Überzeugungsbildung versteht. An konkreten Anknüpfungspunkten für diese Diskussion wird es nicht fehlen, denn nach dem schnellen Schlucken der DDR kommen jetzt erst die Verdauungsschwierigkeiten. Das betrifft etwa die Länderfinanzierung wie die Frage des Föderalismus überhaupt.

Auch die Regierungskoalition will eine Veränderung der Verfassung, doch die Forderungen des Kuratoriums stoßen da auf wenig Gegenliebe. Das gilt sowohl für das Prozedere bei Grundgesetzänderungen wie für inhaltliche Vorschläge, etwa die grundgesetzliche Verankerung direkter Demokratie...

Es kommt darauf an, ob es dem Kuratorium gemeinsam mit anderen Bürgerrechtsgruppen, aber auch mit Gruppierungen innerhalb der Parteien, gelingt, die Öffentlichkeit durch qualitative Vorschläge für eine Verfassungsdiskussion zu mobilisieren. In diesem Fall besteht die Chance, das Grundgesetz in akzeptabler Weise zu verändern.

Welche Möglichkeiten sehen Sie, die SPD für die Positionen des Kuratoriums zu gewinnen?

Die SPD hat in den letzten Jahrzehnten den repräsentativen Absolutismus des Grundgesetzes massiv gefördert, während sie mitnichten versuchte, die außerparlamentarischen Bewegungen zu unterstützen oder zumindest auf sie einzugehen. Zwar signalisieren Teile der SPD Unterstützung für eine Verfassungsrevision im Sinne des Kuratoriums; dennoch würde ich erstmal mephistophelisch sagen: „Die Botschaft hör' ich wohl, allein mir fehlt der Glaube.“

Es gibt ja Stimmen, die mit den Vorstellungen des Kuratoriums sympathisieren, aber aus Angst vor einer restriktiven Veränderung des Grundgesetzes vor der Verfassungsdebatte warnen.

Wer politisch nichts riskiert, wer versucht, Demokratie im Safe zu machen, der wird zu einer Demokratisierung kaum beitragen können, weil das Risiko des Rückschritts immer besteht. Nur wenn wir die verfassungspolitische Debatte eröffnen und begründete Positionen beziehen, haben wir eine Basis, von der aus wir eine rückwärtsgewandte, die Demokratie beschneidende Verfassungsrevision am ehesten verhindern können. Wenn solche Veränderungen nach rückwärts drohen, dann nicht deshalb, weil wir diese Diskussion angeregt haben; es scheint mir eher umgekehrt: Nur mit einer öffentlichen Diskussion können wir uns gegen die regierungsamtlichen Zumutungen erwehren.

Der Entwurf des Runden Tisches für eine neue Verfassung konnte im April dieses Jahres von der Volkskammermehrheit ohne große öffentliche Resonanz abserviert werden. Ist das nicht ein Indiz dafür, daß der überwiegende Teil der Bevölkerung für eine Verfassungsdiskussion nicht zu gewinnen ist?

Es wird schwer sein, aber ich weiß, daß diese Diskussion nur dann Sinn macht, wenn sie „von unten“ her geführt wird. Man kann nicht hoffen, daß einige Kamingespräche mit Ministerpräsidenten und ihren persönlichen Referenten genügen, um eine vernünftige Verfassungsreform zu erreichen. Schon das Verfahren der Verfassungsdiskussion selbst muß ein politisierend-demokratisierendes sein. Der Entwurf des Runden Tisches war eine abschließende Arbeit der verwelkenden Übergangs-DDR. Danach ging es ruck, zuck! in den Anschluß. Es blieb keine Zeit mehr, Alternativen zu diskutieren, schon gar nicht auf der Ebene dieses Pseudoparlamentes, genannt Volkskammer. Jede verfassungspolitische Diskussion heute muß versuchen, die Leute in der ehemaligen DDR auch dadurch zu interessieren, daß sie den Entwurf des Runden Tisches wieder aufnimmt. Ich halte das für sinnvoll, auch wenn ich diesen Entwurf nicht so uneingeschränkt akklamiere, wie das viele tun. Ich halte ihn in manchen Teilen für übermäßig konservativ. Er leidet daran, daß er einen Werteüberbau hat; es werden eine Menge neuer Grundrechte formuliert, ohne daß daraus organisatorische Konsequenzen gezogen würden. Für die Debatte jetzt ist es notwendig, diese Konsequenzen zu ziehen, angefangen von der Handhabung der Stasi-Akten bis hin zur Frage der Einstellung und der Entlassung von Leuten, die in den etablierten Institutionen der DDR gedient haben. Auch in dieser Hinsicht muß eine verfassungspolitische Diskussion Fundamente geben, um diese Fragen rationaler und humaner zugleich entscheiden zu können.

Sehen Sie Zusammenhänge zwischen der bundespolitischen Verfassungsdebatte und dem Verfassungsgebungsprozeß in den neuen Bundesländern?

Für die Modifizierung des Grundgesetzes spielen die neuen Länderverfassungen eine wichtige Rolle. Das Kuratorium sollte versuchen, auch auf den Verfassungsgebungsprozeß in den Ländern Einfluß zu nehmen. Da sehe ich gute Chancen, weil an diesem Prozeß Gruppen beteiligt sind, die — bei aller Orientierung an der alten Bundesrepublik — doch auch vom spezifischen Problemdruck in ihren Ländern motiviert werden. Entscheidend wird sein, wie streitfähig sich die neuen Länder und ihre Repräsentanten erweisen; ob die Tendenz dieses Jahres, sich von der Bundesrepublik unterbuttern zu lassen, fortgeschrieben wird oder ob sie aufgrund des neuen Problemdrucks sagen: „So nicht weiter!“

Das Kuratorium will jetzt noch einmal einen geschlossenen Verfassungsentwurf vorlegen. Wäre es nicht — gerade angesichts der Widerstände in den Parteien gegen eine Totalrevision des Grundgesetzes — sinnvoller, sich auf einige Elemente der zukünftigen Verfassung zu konzentrieren und nicht mit diesem umfassenden Anspruch in die Auseinandersetzung zu gehen?

Es wäre aktuell sicherlich notwendig, sich auf einige zentrale Elemente zu konzentrieren. Andererseits halte ich es auch für wichtig, daß ein Gesamtentwurf erarbeitet wird, der dann mehr sein muß, als ein mit Elementen des Runden Tisches angereichertes Grundgesetz. Er müßte in der Tat auf die realen Probleme der heutigen Zeit bis hin zur Europafrage antworten und zugleich so formuliert sein, daß ihn jeder verstehen kann. Mit einem solchen Alternativentwurf könnte man werben. Man muß jetzt Verhinderungsarbeit gegen restriktive Änderungen leisten und zugleich eine radikale Alternative formulieren, die in der Frage der Menschenrechte, der Demokratie und des Föderalismus auf der Höhe der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts ist. Das ist sicher ein Prozeß, für den man sich zwei, drei Jahre Zeit nehmen sollte. Interview: Matthias Geis

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