...saß er schweigend am Rande der Szenerie

■ Am Samstag starb der polnische Regisseur, Maler und Bühnenbildner Tadeusz Kantor im Alter von 75 Jahren/ In einem taz-Interview bekannte er 1988 seine Abneigung gegen ein oberflächliches Polit-Theater: „Ich verabscheue das Kollektiv“

Berlin (taz) — Ich kehre nicht mehr zurück hieß sein letztes Stück, das 1988 uraufgeführt wurde. Wie ein Vermächtnis erschien diese Inszenierung, mit der er seine früheren Stücke — Die Künstler sollen krepieren, Wielopole Wielopole, Die tote Klasse bis hin zu seiner ersten und noch illegalen Inszenierung Die Rückkehr des Odysseus — auf die Bühne zurückholte. Zuletzt bereitete er in Toulouse ein neues Stück mit dem Titel Heute ist mein Geburtstag vor, das Ende Januar 1991 in Paris uraufgeführt werden sollte. Am Samstag war sein Todestag, fünfundsiebzigjährig starb Tadeusz Kantor in Krakau.

Kantors Stücke ähnelten sich und waren als Theatererlebnis jedesmal unvergleichlich, sie lebten von der Wiederholung, schleppten von Inszenierung zu Inszenierung das gleiche Figurenarsenal mit sich herum, Menschen mit gespenstisch bleichen Gesichtern und lebensgroßen Puppen im Arm, die ihnen aufs Haar glichen, seltsame und wie von Geisterhand lebendig werdende Kreaturen, die seiner untergegangenen polnischen Heimat entsprungen und entkommen waren, Priester, Brautpaare, Familienangehörige, Soldaten, die zu Tangomusik einen Todesreigen tanzten.

In Ich kehre nicht mehr zurück posieren sie für ein Gruppenfoto; die altmodische Plattenkamera verwandelt sich urplötzlich in ein Maschinengewehr, das alle niedermäht — Kantors „Theater des Todes“. Tadeusz Kantor kam von und blieb auch zeitlebens bei der bildenden Kunst, der 1915 in Wielopole bei Krakau geborene Theatermann war bis 1939 als Maler und Bühnenbildner tätig. Im Zweiten Weltkrieg gründete er ein Untergrundtheater, 1955 dann sein berühmtes experimentelles Ensemble „Cricot 2“. Mit ihm spielte er die surrealistischen Stücke von Stanislaw Ignacy Witkiewicz. Kantor übernahm Techniken des Happenings und entwickelte das „autonome Theater“, das durch Bild und Schock wirken sollte.

Die Produktionen Kantors wurden weltbekannt. Im Jahr 1986 war er während der Berliner Festwochen mit seinem Ensemble zu einer Werkschau eingeladen. Kantor arbeitete in den vergangenen Jahren viel in Frankreich. Die Schlußproben zu Heute ist mein Geburtstag fanden in Krakau statt, wo Tadeusz Kantor unmittelbar nach der Generalprobe zusammenbrach und ins dortige Krankenhaus eingeliefert werden mußte. In der darauffolgenden Nacht starb er.

Kantor war bei den Aufführungen stets auf der Bühne anwesend. Im dunklen Anzug und mit Hut saß er schweigend am Rande der Szenerie, Inszenator einer Erinnerungsarbeit, die immer auch um das traumatische Erlebnis des Todes seines Vaters in Auschwitz kreiste. Er saß da, stumm, ein in jeder Hinsicht faszinierender Mensch. In einem taz-Interview (vom 20.Mai 1988) sagte er: „Mein Programm war es nie, ,politisches Theater‘ zu machen. Aber es ist nun mal so: Alles, was wir sagen und tun, ist politisch. Ich spreche nicht gerne über dieses Thema, denn meine Landsleute würden sofort sagen, ich sei ein ,politischer‘ Autor. Politisch, sozial, vor allem sozial. Ich bin für das individuelle Leben, das rein individuelle, gegen das alles beherrschende Signum unserer Zeit: die Ideologien der Masse, des Kollektivs, der Vermassung. Ich bin gegen all das, weil es gegen den Menschen ist. Der Mensch ist sein ,Privatleben‘. Und das ist politisch. Ich verabscheue das Kollektiv. Wir Individuen werden verlieren. Aber, nach mir die Sintflut.“ Sabine Seifert