Zwischen Dorftratsch und Erinnerung

Prozeß gegen einen Lehrer wegen sexueller Nötigung platzt immer wieder/ Angeklagter W. an bisher unbekanntem Ort erkrankt/ Mädchen warten schon seit fünf Jahren auf den Prozeß/ Neuer Termin ist für Ende Dezember geplant  ■ Aus Nidda Heide Platen

Die Atmosphäre für neue Schülerinnen der kleinen Außenstellen der Gesamtschule Hungen in den mittelhessischen Dörfern Bellersheim und Obbornhofen muß in den Jahren 1982 bis 1985 bedrückend gewesen sein. Kichern, Geheimniskrämerei, eine spür- aber nicht erklärbare „Blockbildung“ gegen die „Neuen“, berichteten Mädchen, die damals, als Sechs- bis Neunjährige, die ersten bis vierten Klassen besuchten. Und zwar immer dann, wenn Lehrer W. zu ihren Lehrern gehörte. Die Mädchen haben sich, erinnerten sie sich später, nachgerade gegenseitig belauert, wann welche in die erschreckenden Gepflogenheiten des Pädagogen als eingeweiht gelten konnte. Seit Anfang November dieses Jahres steht W. als Angeklagter vor dem zuständigen Amtsgericht in Nidda. Oder sollte dort zumindest stehen. Die Anklage, über deren Verlesung das Verfahren bisher nicht hinauskam, ehe es vorerst platzte, wirft ihm in zehn Fällen „sexuelle Handlungen“ an Kindern vor. Die Anklageschrift ist in ihrer stereotypen Wiederholung nur schwer zu ertragen. Der Staatsanwalt jedenfalls geht davon aus, daß W. den Kindern nicht nur immer wieder die Ohrmuscheln ausleckte und sie auf auf seinen Schoß setzte, sondern die Mädchen dabei auch an intimen Körperstellen befingerte, über die sie damals zu Hause nicht hätten reden können oder wollen. Er nötigte sie auch, ihn ihrerseits anzufassen. Dies alles fand in Klassenzimmern, auf dem Schulhof und im Lehrerzimmer statt.

W. soll, so sagen es örtliche Gerüchte, den Schulbehörden schon vorher einmal einschlägig aufgefallen und deshalb versetzt worden sein.

Wut und Empörung überwinden die Angst

Inzwischen haben sich sieben der zehn Mädchen, die als Zeuginnen geladen sind, zusammengefunden und sind durch Nebenklage vertreten. Gemeinsame Treffen, die von Eltern, Frauenbeauftragter, Kinderschutzbund und AnwältInnen organisiert wurden, helfen mühsam über die Sprachlosigkeit hinweg. Erst in den letzten Wochen sind die Mädchen offensiver geworden. Vier von ihnen sind jetzt auch bereit, die Öffentlichkeit über den Prozeß zu informieren. Sie beschreiben, daß bei ihnen — auch aufgrund der langen Verfahrensdauer — „Wut und Empörung“ die Angst geringer werden lassen. Alle leiden darunter, daß die Ereignisse, die den damals unter zehn Jahre alten Mädchen widerfuhren, deren älteste inzwischen bald 16 Jahre alt wird, immer noch nicht aufgearbeitet sind, daß ihr Auftreten in der öffentlichen Hauptverhandlung ihnen immer noch bevorsteht. Das Verfahren sorgt in den Orten, aus denen sie kommen, weiter permanent für Tuscheleien, Klatsch und Tratsch.

Eine Mutter mußte sich von den Nachbarn sagen lassen, sie hätte besser „geschwiegen wie wir anderen auch“. Mütter berichteten außerdem, daß ihre Töchter noch heute unter dem Geschehenen leiden. Schon damals hätten sie Alpträume und Kopfschmerzen gehabt, seien plötzlich mit schlechten Schulnoten nach Hause gekommen. Sie haben immer noch Angst vor männlichen Lehrern, vor allem, wenn sie W. ähnlich sehen oder auch nur „so riechen“.

Einigen der Mädchen ist heute bewußter als vorher, daß die Unmöglichkeit, über das, was in der Schule geschah, selbst mit ihren Eltern zu reden, eine kaum zu bewältigende Belastung ist. Versteckte Hinweise auf den Lehrer wurden von den vielen Eltern, denen Pädagogen in ländlichen Gebieten noch immer als unangreifbare Autoritäten gelten, abgewehrt. Die Kinder bekamen also gesagt: „Geh' brav zur Schule und mach', was der Lehrer sagt!“ Die Abwehr hat auch andere Ebenen. Selbst diejenigen, die den Mädchen heute Glauben schenken, versuchen, so stellte es die Nebenklagevertreterin Ursula Ehrhardt in Gesprächen fest, die sexuelle Belästigung von Mädchen vorbei am Stand der Erkenntnisse zu erklären. Der Mann müsse, wenn er denn tatsächlich schuldig sei, „doch verrückt gewesen sein“, eine Ausnahme, ein einzelner, der Schuld daran trage, daß ihre Gegend „in Verruf“ gekommen sei.

Ein permanent kranker Angeklagter

Vor diesem Hintergrund nimmt sich die Verzögerung des Verfahrens, das endlich nach fünf Jahren Wartezeit für die Zeuginnen in Gang kommen sollte, nicht nur wie eine Provinzposse aus. Die Ermittlungen begannen im Herbst 1985. Glaubwürdigkeitsgutachten bestätigten die Aussagen der Kinder. Die Anklage lag im Sommer 1987 auf dem Tisch. Lehrer W. hatte inzwischen 1986 seine Beurlaubung aus gesundheitlichen Gründen erhalten. Ein für den Oktober 1989 angesetzter Termin mußte aufgehoben werden. Ende 1989 stellte ein Arzt fest, daß W., wenn auch nur ein bis zwei Stunden pro Tag, verhandlungsfähig sei. Nachdem sich weitere Termine wegen Krankheit des Angeklagten verschoben hatten, fiel das Verfahren im September 1989 ins Wasser, weil das Gericht die Urlaubsplanung der Schöffen ignoriert hatte. Im November stellte sich die Besetzung des Schöffengerichtes als nächste Katastrophe heraus. Die beiden Schöffen sind LehrerInnen. Der eine arbeitet derzeit als Leiter der Förderstufe in der Gesamtschule Hungen und hatte auch einige der betroffenen Mädchen unterrichtet, deren Glaubhaftigkeit er als Laienrichter beurteilen sollte.

Mittlerweile ist das Verfahren in ein neues Stadium getreten, das sowohl die Eltern als auch die Zeuginnen und ihre Rechtsvertretung in Harnisch bringt. Der Angeklagte ließ durch seine Verteidigung, die Frankfurter Rechtsanwaltskanzlei Steinacker, wissen, er sei während einer Reise in „das Gebiet der ehemaligen DDR“ erkrankt und wiederum nicht verhandlungsfähig. Das Gericht unter dem Vorsitz von Amtsrichter Hössl reagierte für Staatsanwaltschaft und Nebenklage verblüffend. Es hob alle zehn bisherigen Verhandlungstage auf und terminierte für Ende Dezember zum fünften Male neu. Einen von Staatsanwaltschaft und Nebenklage geforderten Haftbefehl gegen den Angeklagten lehnte er ab.