De Maizière „keine unbekannte Größe“

De Maizière soll der informelle MfS-Mitarbeiter (IM) „Czerny“ gewesen sein/ Führungsoffiziere bedauern „zutiefst“, daß sie sämtliche Unterlagen über ihre Zuträger vernichten mußten...  ■ Von Wolfgang Gast

Berlin (taz) — Für Manfred S., einen Mitarbeiter der Hauptabteilung XX bei der Berliner Bezirksverwaltung der Stasi, ist Lothar de Maizière kein Unbekannter. In trauter Runde mit den Kollegen der Abteilung 4, der sogenannten „Kirchenstrecke“, bekam er erstmals im November letzten Jahres den Tip, daß der Rechtanwalt und spätere Ministerpräsident der DDR unter den 130 Offizieren der Ateilung „keine unbekannte Größe“ gewesen ist. Konkreter wurden die Genossen im folgenden Frühjahr. Von der Auflösung ihres Ministeriums verbittert und die Arbeitslosigkeit vor Augen war die alte Loyalität dahin, die strikte Geheimhaltung brüchig. Mißtrauisch verfolgten die MfS'ler die Karriere besonders eines Mannes: Die von Lothar de Maizière. Kein Treffen in der Abteilung habe es zu dieser Zeit gegeben, erinnert sich Manfred S., bei dem nicht de Maizière erwähnt wurde. Als dieser dann vom Vorsitz der Ost-CDU zum stellvertretenden Ministerpräsidenten unter der Regierung Hans Modrows aufstieg, sei einem der Führungsoffiziere der Kragen geplatzt: De Maizière, das sei der informelle Mitarbeiter (IM) „Czerny“ gewesen. Mit seiner Führung waren drei Personen betraut: Der Diplomphysiker und Major Edgar Hasse, der im Herbst '88 nach einer „Tiefenkontrolle“ seiner Abteilung strafversetzt und anschließend von seinem früheren Vorgesetzten Kurt Domaier als Führungsoffizier abgelöst wurde. Mit dabei war auch der stellvertretende Abteilungsleiter für Kirchenfragen, Oberstleutnant Bronder, der seit den 50er Jahren in der Berliner Bezirksverwaltung für die Bespitzelung der Kirchen zuständig war. Er kannte und arbeitete mit allen „Informellen“. Zutiefst bedauerten die Führungsoffiziere bei dieser Gelegenheit, daß sie sämtliche Unterlagen über ihre Zuträger zwischem dem 10. und dem 15. November 1989 vernichten mußten. Mit denen hätte man schließlich Einfluß auf die Politik der Modrow-Regierung nehmen können. Am meisten ärgerte die Offitziere aber, dies auch noch dem früheren Informanten mitgeteilt zu haben — zusammen mit der Botschaft, er brauche sich deshalb für die Zukunft keine Sorgen zu machen. Daß Lothar de Maizière ein Mitarbeiter der Stasi gewesen sein soll, pfeifen die Spatzen seit dem Frühjahr von den Dächern. Der Ex-Premier und heutige Bonner Minister hat dies stets, wie auch jetzt, entschieden zurückgewiesen und dabei auf seine Überprüfung an Hand der Stasi-Archive im März verwiesen. Monatelang recherchierten Journalisten unter den Stasi-Auflösern und in den verschiedenen Stasi-Behörden — einen Beweis für die informelle Stasi- Mitarbeit de Maizières fanden sie offensichtlich nicht.

Eine Woche nach der Bundstagswahl will nun das Hamburger Magazin 'Der Spiegel‘ die entscheidenden Dokumente aufgestöbert haben. Unter der Registriernummer „XV/3468/81“ einer bis dato nur Eingeweihten bekannten Territorialkartei „F 78“ sollen sich die Angaben befinden, nach denen der Informelle Mitarbeiter „Czerny“ unter der Adresse Am Treptower Park 31 in Berlin gewohnt hat. Dies ist die Anschrift De Maizières. Darüber hinaus wollen die Rechercheure einen internen Revisionsbericht der Abteilung XX/4 gefunden haben, in dem die Deck- und Klarnamen der IM aufgelistet werden. „Czerny“, so schreibt der „Spiegel“, werde darin unter seinem bürgerlichen Namen aufgeführt. Aus der Registriernummer ergebe sich, daß der Bundesminister ohne Geschäftsbereich seit 1981 für die Stasi tätig war. Das besondere Interesse an de Maizière hätte seinem Zugang zu führenden Kirchenkreisen, seinen Verbindungen zur Ständigen Vertretung Bonns in Ost-Berlin und seiner Rolle als Anwalt der Kirche gegolten. Stasi-Major Edgar Hasse habe als Führungsoffizier von „Czerny“ in einem internen Bericht vom 9. September 1988 festgehalten, sich „zehn bis zwölf Mal im Jahr“ mit ihm getroffen zu haben. Treffen, die auch in konspirativen Wohnungen stattgefunden haben sollen. Geld habe „Czerny“ dafür nicht bekommen. Die neuen Anschuldigungen gegen den CDU-Politiker sind umgehend zur Chef-Sache erklärt worden. Bereits am Donnerstag wurde die Bundesregierung vom Sonderbeauftragten für die weitere Stasi-Auflösung, Jochen Gauck, vom neuen Aktenfund unterrichtet. Regierungssprecher Vogel bestätigte am Wochenende die Existenz der Territorialkartei. Kanzler Kohl wurde verständigt und zwischen Kanzleramtsminister Seiters und de Maizière vereinbart, daß Bundesinnenminister Schäuble die weitere Aufklärung der Vorwürfe vorantreiben soll. Von den Mitarbeitern des 'Spiegels‘ konfrontiert, erklärte de Maizière, er könne nur wiederholen, er habe mit der Stasi nichts zu tun gehabt. Wenn nun sein Name in Verbindung mit dem ihm unbekannten Namen „Czerny“ in den Akten stehe, so könne das schon eine Erfindung von Stasi-Leuten sein.

Führungsoffizier Hasse, den der passionierte Bratschenspieler de Maizière auch nicht kennen will, kommentierte: „De Maizière ist mit Wissen und freiwillig zu Gesprächen mit dem MfS bereit gewesen“. Den Decknamen „Czerny“ habe sich der CDU-Politiker zudem selber ausgesucht. Carl „Czerny“ lebte von 1791 bis 1857 in Österreich. Er war Klavierpädagoge und Komponist.