Dritter bundesweiter Kongreß „Verfassung für Deutschland“
: Verfassungsdiskussion läßt sich nicht abwürgen

■ Am Samstag veranstaltete das „Kuratorium für einen demokratisch verfaßten Bund Deutscher Länder“ einen Verfassungskongreß in Potsdam. Bis März nächsten Jahres soll ein eigener Verfassungsentwurf vorgelegt werden. Für eine breite öffentliche Beteiligung wirbt das Motto: „Verfassungsfragen sind Alltagsfragen“

Hans-Peter Schneider machte dem Kongreß Mut: „Wer jetzt noch glaubt, die Verfassungsdiskussion ließe sich abwürgen oder kanalisieren, der wird sein blaues Wunder erleben.“ Keiner der 450 Kongreßteilnehmer in Potsdam, die am Wochenende in zwölf Arbeitsgruppen an den inhaltlichen Schwerpunkten für eine neue deutsche Verfassung arbeiteten, wollte dem Hannoveraner Staatsrechtler da widersprechen. Nur Rosi Will, ebenfalls Staatsrechtlerin aus Ost-Berlin, formulierte am Rande die vorsichtig skeptische Gegenfrage: „Will sich die Bundesrepublik in der Verfassungsfrage denn überhaupt bewegen?“, und im Hinblick auf die Chancen des Kuratoriums: „Warum wir das jetzt bewegen können sollen, hab ich noch nicht kapiert.“ Doch weder auf dem Potsdamer Kongreß noch auf der Mitgliederversammlung des veranstaltenden Kuratoriums am Vortag in der Berliner Humboldt-Universität wurden die veränderten politischen Rahmenbedingungen nach der Bundestagswahl oder die konservativen Änderungsvorschläge für eine Grundgesetzrevision als entscheidende Hindernisse einer Verfassungsdebatte mit emanzipatorischer Zielsetzung bewertet. Vielmehr, so Schneider, sei die Tatsache der beginnenden Debatte selbst schon Indiz für die „außerordentlich erfolgreiche“ Arbeit des Kuratoriums.

Die im Juni gegründete gesamtdeutsche Bürgerinitiative zählt nahmhafte VerfassungsrechtlerInnen, PolitikerInnen und BürgerrechtlerInnen zu ihren Mitgliedern. Während die Parteien der Bonner Regierungskoalition den Zielen des Kuratoriums skeptisch gegenüberstehen, verfügt es, etwa mit Herta Däubler-Gmelin, zumindest über Kontakte in die Führungsetagen der SPD. Die Unterschriftenkampagne des Kuratoriums für eine neue, durch Volksentscheid sanktionierte Verfassung hat mittlerweile 50.000 Unterstützer. Dennoch waren sich in Potsdam alle darüber einig, daß von einer „Massenbewegung für eine neue Verfassung noch lange nicht die Rede sein kann“, wie es Gründungsmitglied Tine Stein formulierte.

Klar ist immerhin, daß der Bundesrepublik, von ganz unterschiedlichen Interessenlagen her, in den nächsten Jahren eine Verfassungsdiskussion ins Haus steht. Das ist bereits im Einigungsvertrag, Artikel 5, vorgezeichnet. Zudem wollen die Länder die Einigung nutzen, um ihre Rechte gegenüber dem Bund zu stärken, und die Länderfinanzierung auf neue Grundlagen zu stellen. Außerdem müssen die fünf neuen Länder im Laufe des kommenden Jahres ihre Landesverfassungen erarbeiten. Konservative Kreise möchten gerne langegehegte verfassungspolitische Änderungswünsche, etwa die Einschränkung des Asylrechts, den Schutz ungeborenen Lebens oder die Möglichkeit deutscher Truppeneinsätze außerhalb des Nato-Gebietes im Grundgesetz verankert wissen. Das Kuratorium seinerseits plädiert für eine demokratisch weiterentwickelte, deutlich föderalere Verfassung für die neue Bundesrepublik.

Daß eine Kommission aus Bundestag und Bundesrat — auf die sich die Bonner Koalitionspartner am Vortag geeinigt hatten — die anstehenden Veränderungen aushandeln soll, stieß im Kuratorium auf einhellige Ablehnung. Eine Volksabstimmung über die Verfassung, die — so Schneider — mittlerweile bis in die Union hinein konsensfähig sei, impliziere notwendigerweise eine breite, öffentliche Diskussion und damit ein grundsätzlich anderes Procedere. Das Kuratorium fordert einen Verfassungsrat, der — von den Parlamenten in Bund und Ländern gewählt — nicht einfach nur den etablierten Parteienproporz wiederspiegeln soll. Vorschlagsrecht und Beteiligung gesellschaftlicher Gruppen sei mithin unverzichtbar. Immerhin wertete Schneider die von den Koalitionspartnern vorgeschlagene Kommission als Schritt in die richtige Richtung. Ein solches Gremium sei ein Novum, weiche vom normalen Verfahren der Grundgesetzänderung ab und signalisiere somit, daß auch Union und FDP nicht einfach eine bloß punktuelle Verfassungskorrektur vorschwebe.

Unterschiedliche Einschätzungen gab es auf der Kuratoriumssitzung darüber, ob man einen eigenen geschlossenen Verfassungsentwurf erarbeiten und in die Debatte bringen soll. Jürgen Seifert plädierte dafür, die „politische Machtsituation zu realisieren“ und die Ansprüche nicht zu überziehen. Ein eigener Entwurf sei illusorisch und nicht durchzusetzen. Es gelte jetzt „an bestimmten Punkten Änderungsvorschläge zu entwickeln.“ Nur so sei es möglich, eine breite Öffentlichkeit für die Verfassungsdebatte zu gewinnen. Daß eine inhaltliche, schwerpunktorientierte Argumentation notwendig ist, um die BürgerInnen für das eher abstrakte Verfassungstehema zu interessieren, war Konsens. Allerdings warnte der Bremer Verfassungsrechtler Preuß davor, die Debatte auf „allzu konkrete“ Problemfelder einzuengen und „eine bestimmte, kurzfristig angelegte Politik mit dem Vehikel der Verfassungsdiskussion durchsetzen zu wollen.“

Das Kuratorium einigte sich darauf, bis Mitte März kommenden Jahres einen eigenen, an Grundgesetz und Runder-Tisch-Verfassung orientierten Entwurf zu erarbeiten. Parallel dazu soll anhand zentraler Probleme für eine neue Verfassung geworben werden. Denn, so das Motto der Frauenrechtlerin Tatjana Böhm, „Verfassungsfragen sind Alltagsfragen“: Wer beispielsweise, so Schneider, sein Bodenreformland in der ehemaligen DDR nicht verlieren wolle, müsse begreifen, daß das nur über eine Grundgesetzänderung zu erreichen sei. Dasselbe müsse verdeutlicht werden im Hinblick auf die Schwangerschaftsunterbrechung, die Rechte von Ausländern oder die Wünsche nach mehr Beteiligungsrechten der BürgerInnen, die in der Kongreßarbeitsgruppe „Demokratie“ unter dem Stichwort „Volksgesetzgebung“ diskutiert wurde. An Vorstellungen für eine neue Verfassung mangelte es den Kongreßteilnehmern nicht. Die Floskel: „das müßte auch noch rein“ war während der Präsentation der Arbeitsergebnisse am Samstagabend häufig zu vernehmen. Auf Anregung des Bundestagsabgeordneten Wolfgang Ullmann wurde zum Abschluß des Kongresses ein Antrag an Bundestag und Bundesrat verabschiedet: Um den föderalen Charakter der neuen Bundesrepublik zu verdeutlichen, solle die sich einen neuen Namen geben: „Bund Deutscher Länder“. Matthias Geis, Potsdam

Siehe auch Interview S. 10