Verfassungsfragen sind auch Alltagsfragen

■ Die Teilnehmerinnen der AG „Frauen“ machten sich stark für eine konsequente Modifizierung des Grundgesetzes aus feministischer Sicht

Die größten Schwierigkeiten machte den Frauen ein Satz aus dem Verfassungsentwurf des Runden Tisches: „Jeder schuldet jedem die Anerkennung als Gleicher.“ Ein schöner Satz, ein faszinierender Satz, wie die Mehrzahl der Teilnehmerinnen der Arbeitsgruppe „Frauen“ in Potsdam befand. Aber leider rein männlich formuliert. Wie ihn also verändern, damit er dem Anspruch auf eine Sprache, die Frauen nicht negiert, gerecht wird? „Jede Person?“ Das sei zu schwach, zu nichtssagend. „Alle schulden allen?“ Das entkräfte die Aussage. Und komme nicht das Verb „schulden“ aus dem christlich- moralischen Kontext, der Frauen nichts Gutes verheiße? Schließlich: Was bedeutet „als Gleicher“? Gehe es den Frauen nicht gerade um die Anerkennung von Verschiedenheit?

Vor allem anderen kennzeichnete die intensive Suche nach Worten und Begriffen die Diskussion über Verankerung von Frauenrechten. In welchem Bereich auch immer: Die Begriffe erschienen viel zu oft untauglich, um das neuartige Anliegen auszudrücken. Die Tradition einer von Männern vorgegebenen Lesart war allgegenwärtig.

Doch umso wichtiger und spannender finden Frauen diese Auseinandersetzung. An das Kuratorium ging in Potsdam noch einmal der Auftrag, die neue Verfassung in einer Sprache zu formulieren, in der Frauen sichtbar werden und für eine paritätische Besetzung des möglichen Verfassungsrates zu sorgen.

Fristenregelung, Quoten und Selbstbestimmung

Schon im Frühjahr mischte sich eine Initiative „Frauen in bester Verfassung“, die später von der Humanistischen Union aufgegriffen wurde, in die aktuelle Diskussion ein; in Frankfurt entstand eine Gruppe um die Frauenforscherin und Soziologin Ute Gerhard und das Frauendezernat der Stadt. Bei einem „Verfassungskongreß der Frauen“ stellten sie das „Frankfurter Frauenmanifest“ vor, das eine konsequente Modifizierung des Grundgesetzes aus feministischer Sicht versucht und auch der Potsdamer AG als Orientierung diente. Informationsveranstaltungen in den verschiedenen Städten treffen auf erstaunlich großes Interesse. Der Grund: Es brennt den Frauen unter den Nägeln. Denn das Engagement speist sich nicht nur aus dem Interesse, den politischen Konstellationen des vereinten Deutschlands durch eine neue Verfassung gerecht zu werden.

Vielmehr sind zwei zentrale politische Anliegen der Frauenbewegung ganz aktuell mit der Verfassungsdiskussion verknüpft. Zum einen die Debatte um die Straffreiheit von Schwangerschaftsabbrüchen und die Chancen einer Fristenregelung. Zum anderen die Auseinandersetzung um die Verfassungsmäßigkeit von Quoten. Jüngst hatte das Oberverwaltungsgericht in Münster das Frauenförderungsgesetz aus Nordrhein-Westfalen nach Karlsruhe geschickt mit der Begründung, hier würde eine verfassungswidrige Benachteiligung einzelner Männer vorgenommen.

Die Frage ist also: läßt sich aus dem Grundsatz in Artikel 3 GG „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ die Verpflichtung des Staates ableiten, Frauen aktiv zu fördern, oder bedarf es dazu einer Ergänzung? Die vorliegenden Entwürfe — Runder Tisch, Frankfurter Manifest, Humanistische Union — bejahen dies uneingeschränkt. Die Potsdamer Arbeitsgruppe erarbeitete aus den bisherigen Vorschlägen nun folgende Formulierung, die in den geplanten Verfassungsentwurf des Kuratoriums eingebracht werden soll: „Der Staat ist verpflichtet, durch geeignete Maßnahmen die gleichberechtigte Teilhabe der Geschlechter in allen gesellschaftlichen Bereichen herzustellen. Der Gleichberechtigungsgrundsatz läßt zur Förderung der tatsächlichen Gleichstellung und zur Kompensation bestehender Ungleichheiten vorübergehende rechtliche Bevorzugungen von Frauen zu.“ Nahezu jedes Wort in diesem Satz war zuvor hin- und hergewendet worden. Sollte es „Gleichstellung“ oder „Gleichberechtigung“ oder „gleichberechtigte Teilhabe“ heißen? Am Begriff „Gleichstellung“ kritisierte Diskussionsleiterin Ute Gerhard, er beinhalte „scheinbar so selbtsverständlich die Angleichung an die Stelllung der Männer.“ Die Juristin Dagmar Schiek aus dem Hause der Berliner Ex-Senatorin Anne Klein veband dagegen damit die Vorstellung einer „Gleichverteilung sozialer Macht“. Letztendlich wurden beide Begriffe eingebaut.

Geschlechtsneutrale Wortwahl hat größere Durchsetzungschancen

Sprengstoff bietet die Formel ohnehin — konservativen Verfassungsrechtlern dürfte der Passus über die Bevorzugung von Frauen die Haare zu Berge stehen lassen. Eine Teilnehmerin wandte denn auch ein, daß eine geschlechtsneutrale Wortwahl wie „Bevorzugungen des benachteiligten Geschlechts“ größere Durchsetzungschancen hätte. Vergleichbares gibt es zum Beispiel in der schwedischen Verfassung. Doch Heide Hering von der Humanistischen Union verteidigte die offensive Variante: „Wir bewegen uns hier auf Neuland, wir sind nicht der Verfassungsrat, wir sollten nicht jetzt schon Kompromisse schließen.“

Eine ähnliche Motivation bewegte die Frauen auch bei der Frage der Entscheidungsfreiheit über Schwangerschaftsabbrüche. Während sich alle anderen Modifizierungen an den jeweiligen Artikeln des Grundgesetzes orientierten, entschlossen sich die Frauen in Potsdam in diesem Fall einen neuen Artikel zu fordern. Denn sowohl die Zuordnung zu Artikel 2 (Persönlichkeitsrechte) als auch zu Artikel 4 (Gewissensfreiheit) wirft, so wurde in der Diskussion deutlich, spezifische Probleme auf. Dem Kuratorium liegt jetzt der Vorschlag vor: „Jede Frau hat das Recht zu entscheiden, ob sie eine Schwangerschaft austrägt oder nicht.“

Doch damit sind die Konflikte natürlich nicht vom Tisch. Zwei Vertreterinnen aus kirchlichen Kreisen setzten sich ausdrücklich für die „Rechte der Ungeborenen“ ein. Der Mehrzahl der Frauen aber kam es mehr auf die Rechte der geborenen Kinder an und die Rechte derer, die sie großziehen.

Verfassungsdebatte: nicht nur Expertensache

So bildete den dritten Schwerpunkt der Diskussion die grundlegende Veränderung des Artikels 6 Grundgesetz, der Ehe und Familie unter den besonderen Schutz des Staates stellt. Einhellig wurde die Bevorzugung der Ehe mit ihren konkreten materiellen Auswirkungen im Steuer- und Sozialrecht als patriarchaler Anachronismus abgelehnt. Statt dessen sollen „Lebensgemeinschaften oder Lebensformen mit Kindern oder Pflegebedürftigen ungeachtet ihres Familienstandes“ schutzwürdig werden. „Verfassungsfragen“, so Tatjana Böhm, eine der Sprecherinnen des Kuratoriums, „sind auch Alltagsfragen.“ Unter diesem Blickwinkel, da gab sich die Frauenpolitikerin, die schon für den Unabhängigen Frauenverband am Runden Tisch gesessen hatte, zuversichtlich, werde die Verfassungsdebatte nicht nur eine Sache von Expertinnen bleiben. Helga Lukoschat, Potsdam