Zeuge Scherf äußert Verständnis

■ Geiselprozeß: Senator spricht von „Kohlhaas-Situation und bizarren Familienverhältnissen“

Zweiter Verhandlungstag im Bremer Geiselprozeß, Vernehmung des Zeugen Henning Scherf. Der Bremer Bürgermeister war am 23. Januar 1989 als Vermittler zur Befreiung des seit zweieinhalb Tagen im Lokal „Paletti“ in der Neustadt festgehaltenen Rechtsanwalts Wolf Leschmann eingeschaltet worden. Kidnapper Köksal S. rief Scherf um sieben Uhr morgens in seinem Privathaus an, erklärte, er habe Leschmann „in der Hand“ und trug Scherf seine Forderungen nach einer Million Mark, einem Waffenschein für seine Pistole und einer Straffreiheitserklärung vor. Scherf begab sich flugs ins Amt, um mit Beratern und Polizei das weitere Vorgehen zu überlegen. Über mehrere Telefonate hielt er Kontakt zu S. Scherf charakterisierte Köksal S. als jemanden, der sich „total verrannt“ hatte in die Idee, daß ihm Unrecht widerfahren war und er öffentlich rehabilitiert werden müsse: „Da war jemand in einer Kohlhaas-Situation“, ausgelöst durch „bizarre Familienstrukturen“.

Köksal ist das älteste von vier Kindern. Seit er 15 war, kam es zu ständigen Auseinandersetzungen mit dem Vater. Dessen Anerkennung konnte er nur durch besonders gute Leistungen in der Schule erringen, die dazu führten, daß der Handwerkersohn in Deutschland studieren durfte. Damit begann aber auch ein Machtkampf um die Herrschaft innerhalb der Familie. Der schmale, distinguiert wirkende Mehmet S. ist nach den Worten seiner Söhne ein „Herrschertyp“. Er hatte sich den sozialen Aufstieg der Familie zum Ziel gesetzt, dem alles untergeordnet wurde. Es gab nur ein Konto, auf das die beiden erwachsenen Söhne ihren gesamten Verdienst überweisen mußten. Für ihren Unterhalt bekamen sie Taschengeld. Vom gemeinsam Ersparten wurden Wohnungen in einem Haus in der Neustadt und schließlich auch das „Paletti“ ersteigert.

Als es zwischen Vater und Köksal wegen der Führung der Geschäfte immer wieder zu Unstimmigkeiten kam, wurde Köksal die Vollmacht für das Konto entzogen. Für ihn stellt sich die Situation so dar, daß er mit Schulden aus den gemeinsamen Unternehmungen dasteht, an das gemeinsame Geld aber nicht herankommt: „In meinem Leben kann es nie aufwärts gehen.“ Bruder Uysal wurde durch einen flotten Wagen auf die Seite des Vaters gezogen, Köksal von beiden in einer Auseinandersetzung krankenhausreif geschlagen. Aus all dem entstanden diverse Rechtshändel, in denen Leschmann Vater und Bruder vertrat. Der Anwalt wurde für Köksal anscheinend zu einer Art Ersatzobjekt für seine Haß-Liebe zum Vater. Den Eindruck hatte auch der Gekidnappte, nachdem Köksal ihn ins Lokal gelockt hatte und auf ihn einprügelte: „Ich sollte die Schläge zurückbekommen, die der Vater ihm versetzt hatte.“

Vater Mehmet S. verweigerte die Aussage. Er hat seine Familie inzwischen verlassen. Auch Sohn Uysal will nichts mehr mit ihm zu tun haben. Seinen Wohnort wollte Mehmet S. nicht angeben: „Nachdem meine Söhne, für deren Zukunft ich nur das Beste wollte, mir das alles angetan haben, befürchte ich das Schlimmste“, erklärte er dem Gericht.

Nach der von der Bremer Kripo als „erfolgreich“ eingestuften Beendigung der Geiselnahme hat Scherf Köksal S. in der Untersuchungshaft besucht und den Eindruck gewonnen: „Er wollte sich durch die Million nicht bereichern, sondern durch die ganze Aktion seine Vorstellung von Recht durchsetzen.“ In diesem „ungewöhnlichen, untypischen Fall“ sei der Täter befangen gewesen in einem „Knäuel von Angst“. „Er hat das alles nicht überblickt.“ Für Donnerstag werden die Plädoyers und die Urteilsverkündung erwartet. asp