„Abgrenzung ist ein Zeichen von Schwäche“

■ Nora Räthzel (42), Mitbegründerin des Hamburger Instituts für Migrations- und Rassismusforschung: Rassismus — „keine Angelegenheit von armen Leuten“ — ist eine Form, sich der Richtigkeit des eigenen Verhaltens zu versichern/ Kritik am „relativ gefährlichen“ Begriff der multikulturellen Gesellschaft

taz: Es gibt eine Fülle von Rassismustheorien und -begriffen. Was ist für Sie Rassismus?

Nora Räthzel: Rassismus ist die Art und Weise, eine bestimmte Gruppe als eine andere „Rasse“ zu konstruieren, indem man bestimmte körperliche Merkmale, seien sie nun vorhanden oder nur ausgedacht, mit Verhaltensweisen verknüpft, die dann zu Eigenschaften erhoben werden. Damit werden diese Verhaltensweisen als natürliche Eigenschaften dieser bestimmten Gruppe dargestellt. So wird eine andere Gruppe als „Rasse“ konstruiert, die sich quasi biologisch immer wieder selbst reproduziert.

Zum Rassismus gehört auch, daß man diese Gruppe als minderwertig definiert und daß man außerdem eine bestimmte Macht hat, diese Definition auch gegenüber der anderen Gruppe durchzusetzen. Rassismus ist für mich nicht nur eine Idee oder eine Einstellung, sondern immer auch ein Prozeß der Ausgrenzung und des Ausschlusses.

Die Definition anderer „Rassen“ oder Kulturen als minderwertig verlief historisch parallel zur Durchsetzung der bürgerlichen Gesellschaft. Erst damit hat sich ein zeitlicher und räumlicher Eurozentrismus entwickelt. Hat sich Rassismus also im Zuge dieser Entwicklung durchgesetzt, oder muß man weiter in der Geschichte zurückgehen?

Ich würde Rassismus auf die Zeit beschränken, in der man versucht hat, andere Gruppen pseudowissenschaftlich als „Rasse“ oder „minderwertige Rasse“ zu definieren. Insofern hängt das natürlich mit der Entstehung des Kolonialismus und der Notwendigkeit zusammen zu begründen, daß ganze „Rassen“ von Natur aus dazu ausersehen seien, von „uns“ geleitet und gelenkt zu werden, weil sie selber dazu nicht imstande seien. Ich würde erst von dem Moment ab, in dem diese Haltung mehr oder weniger Staatsdoktrin und notwendiger Bestandteil der politischen Ideologie und Handlungsweise geworden ist, von Rassismus sprechen.

Abwehr, Ausgrenzung, Marginalisierung und Verfolgung von Menschen, die man als fremd und anders definierte, hat es natürlich schon viel früher in der Geschichte gegeben. Aber das hatte jeweils andere Funktionen, und deswegen sollte man dafür auch andere Begriffe verwenden.

Das beste Beispiel ist die DDR...

Warum sind derartige rassistische Einstellungen und entsprechende Handlungen so langlebig, daß sie auch dann noch auftreten, wenn das Objekt längst verschwunden ist? Warum gibt es einen Rassismus ohne Rassen?

Rassismus hat mit dem Objekt herzlich wenig zu tun. Er hat hauptsächlich mit der Notwendigkeit von Individuen zu tun, in einer gesellschaftlichen Situation die Beschränkungen der eigenen Handlungsfähigkeiten zu rechtfertigen, indem sie sich eine andere Gruppe konstruieren, die ihnen sozusagen als Folie dient, auf der sie negativ das abbilden, was sie positiv sein möchten.

Sie nennen das in Ihren Schriften „rebellierende Selbstunterwerfung“.

Ja, wir leben in einer Gesellschaft, in der Individuen ihre Fähigkeiten und Kompetenzen mehr oder weniger an staatliche Instanzen abgeben und ihr Leben nicht selbst regulieren. Das führt zu einer Transformation der eigenen Bedürfnisse. Das heißt, man muß bestimmte Formen, sich zu befriedigen, entwickeln, die in die Gesellschaftssituation passen. Andere Befriedigungs- und Lebensformen bleiben dabei auf der Strecke.

Ein möglicher Mechanismus ist eben die Konstruktion einer Gegengruppe, auf die man all die Verhaltensweisen, Lebensformen und Bedürfnisse, die man selber nicht weiterentwickeln kann oder meint, nicht weiterentwickeln zu können, projiziert und negativ definiert. Das ist ein Grundmechanismus, weswegen die Individuen Rassismus brauchen, um in einer Gesellschaft zu Recht zu kommen, in der sie auf bestimmte Lebensweisen und Fähigkeiten verzichten müssen. Welche Gruppe dieses Gegenbild, das Andere, abgeben soll, hängt jeweils von der gesellschaftlichen Situation ab.

Deswegen findet man in den verschiedenen europäischen Ländern jeweils unterschiedliche Gruppen, die diese Funktion erfüllen müssen. Wenn jetzt diese Gruppe nicht mehr oder nur in geringer Zahl existiert, so hat das ja auf die Notwendigkeit, solche Formen des Rassismus zu produzieren, relativ wenig Einfluß. Die Herrschaftsverhältnisse, in denen die Individuen existieren, sind ja nach wie vor da. Das beste Beispiel ist die DDR, wo es nur ein Prozent Ausländer gibt und wo ein Rassismus dennoch sehr stark zum Ausdruck kommt. Nicht die Anwesenheit irgendeiner Gruppe und schon gar nicht deren Zahl ist die Ursache für Rassismus.

Rassismus ist also Ihrer Meinung nach eine Form der Rechtfertigung des Verzichts auf bestimmte Lebensweisen. Für die Berliner Professorin Birgit Rommelspacher dagegen geht es in ihrer „Dominanztheorie“ bei Rassismus um eine befürchtete „Behinderung der Bereicherung“, also um eine „Absicherung von bereits vorhandenen Priviligien“. Macht gebiert immer mehr Macht.

Hinter den verschiedenen Rassismustheorien stecken natürlich immer gewisse Theorien vom Menschen. Bei Rommelspacher steckt die Theorie dahinter, daß es ein Machtstreben gibt. Wir gehen davon aus, daß es eine menschliche Notwendigkeit gibt, seine Lebensbedingungen zu kontrollieren. Überall, wo dies nicht möglich ist, greift man dann eben zu solchen Abwehrmechanismen.

Kontrolle von Lebensbedingungen ist aber nicht gleich Macht, sondern die normale Form, die Existenz zu sichern. Macht ist ja per se kein negativer Begriff. Macht bedeutet auch, sich gegen Herrschaft durchzusetzen. Rommelspacher benutzt Macht negativ: Macht gegen Schwächere, um die eigenen Pfründe zu verteidigen.

Das Leben abzusichern, ist eine Lebensnotwendigkeit. Das Problem dabei ist jedoch, daß man sein Leben nicht abzusichern versucht, indem man sich gegen Herrschaftsverhältnisse wendet, sondern daß der Widerstand sozusagen verschoben wird gegen diejenigen, die genauso schwach oder schwächer sind.

Warum erfreuen sich in der öffentlichen Diskussion ökonomistische Erklärungsansätze, zum Beispiel die Theorie der Verelendung oder der sozialen Verunsicherung, einer so großen Beliebtheit?

Weil sie ohne tiefere Analysen auskommen. Im Grunde genommen fällt man auf Aussagen wie: „Ich habe Angst um meinen Arbeitsplatz“ herein. Dann ist eben die Angst vor Arbeitsplatzverlust der Grund für Rassismus. In unserer Erklärung mit der Kontrolle der Lebensbedingungen ist zwar auch ein Stück materieller Lebensnotwendigkeit selbstverständlich enthalten.

Ich finde es aber falsch, die Menschen auf diese materiellen Lebensbedingungen zu reduzieren. Wir versuchen mit unserem Ansatz, das Mehr an Lebensweisen, -formen und -notwendigkeiten mit zu erfassen und nicht die Leute darauf zu reduzieren, daß sie Wohnung und Brot brauchen.

Krisen wirken sich verstärkend auf Rassismus aus

Wie kann sich dann die Verschärfung einer wirtschaftlichen Krise auf Rassismus auswirken?

Krisen wirken sich schon verstärkend auf Rassismus aus, aber nicht nur deswegen, weil die Leute Angst haben, daß zum Beispiel Ausländer ihnen die Arbeitsplätze wegnehmen, sondern weil eine Krisensituation natürlich auch bedeutet, daß die Verhaltensweisen, die man entwickelt hat, um sein Leben materiell und kulturell abzusichern, dann nicht mehr ausreichen. Der bis dahin geübte Anpassungsprozeß hat dann keinen Erfolg mehr. Insofern ist Rassismus wieder eine Form, sich der „Richtigkeit“ der eigenen Verhaltens- und Lebensweisen zu versichern, indem man das Fremde mit all seinen Eigenschaften angreift und abwehrt.

Ist diese „Verelendungstheorie“ nicht deshalb so weit verbreitet, weil sie eine gewisse Entlastungsfunktion hat und aus Tätern Opfer macht?

Sie dient als Entschuldigung hauptsächlich für diejenigen, die diese Theorien vertreten. Wenn man sagt, Rassismus habe seine Ursache in materiellen Bedingungen, bedeutet das, daß immer nur die „Underdogs“ rassistisch seien, während die gebildeten Schichten von vornherein aus der Analyse ausgeklammert werden. Rassismus wird damit als Angelegenheit betrachtet, die arme Leute betrifft. Doch diese Form der Abwehr und Selbstversicherung gilt nicht nur für Leute, von denen man weiß, daß sie relativ wenig Möglichkeiten haben, ihr Leben selbst zu bestimmen. Sie gilt auch für Lehrer, Sozialarbeiter, Journalisten und so weiter.

Bei Erklärungsansätzen von Rassismus und Rechtsextremismus ist immer von Identität und Persönlichkeitsentwicklung die Rede, von „natürlicher Abgrenzung gegenüber Fremden“ oder davon, daß Stärke sich nur in Abgrenzung zu anderen entwickeln könne...

Es gibt genug Beispiele dafür, daß es diese festen Identitäten, die auf Abgrenzung beruhen, gar nicht gibt. Wir sehen doch, in wie vielen Lebensbereichen wir existieren, in Arbeits- und Beziehungsbereichen, Freizeit und so weiter. Die Identitäten, die Arten und Weisen, sich selbst zu definieren, sind im Grunde genommen schon wahnsinnig vielfältig. Ich denke, die Notwendigkeit der Abgrenzung besteht gerade in dem Moment, wo man verunsichert ist, wo man Angst hat, seine eigenen Verhaltensweisen in Frage zu stellen, zu verändern.

Abgrenzung ist also nicht ein Zeichen von Stärke, sondern von Schwäche. Diese Schwäche resultiert aus gesellschaftlichen Verhältnissen, in den man gezwungen ist, zum Beispiel am Arbeitsplatz bestimmte Befehle auszuführen, sonst fliegt man raus. Das Problem mit den verschiedenartigen Identitäten, wie sie sich heute entwickelt haben — durch Arbeitsplatzwechsel oder Veränderung der Arbeit selbst aufgrund von Automatisierungsprozessen — ist, daß durch diese Individualisierung gleichzeitig ein Element der Entsolidarisierung entsteht. Daraus resultiert natürlich für den einzelnen die Notwendigkeit, sich abzugrenzen, weil er als Individuum versuchen muß, in diesen Arbeits- und Lebensbereichen durchzukommen.

Der deutsche Nationenbegriff ist biologisch definiert

Oft werden Rassismus, Sexismus und Nationalismus in einem Atemzug genannt. In welchem Verhältnisse stehen diese zueinander?

Sexismus ist auch eine Form der Naturalisierung. Frauen werden aufgrund bestimmter biologischer Merkmale als Personen definiert, die bestimmte Eigenschaften und Verhaltensweisen haben und deshalb nur bestimmte Dinge in der Gesellschaft tun können und andere nicht. Frauen sind aber nicht Feind beziehungsweise Feindin innerhalb der Gesellschaft. Frauen grenzt man einerseits aus, aber andererseits sind sie auch Teil der Gesellschaft. Sie sind ja notwendig, um die Gesellschaft zu reproduzieren. Die Funktion von Rassismus und Sexismus ist aber ähnlich. Sexismus dient dazu, Männergemeinschaften zu konstituieren. Und bestimmte männliche Eigenschaften können ja erst definiert werden im Gegensatz zu weiblichen Eigenschaften und weiblichen Schwächen. Frauen sind aber wiederum keine Gruppe, die sich selbst biologisch reproduziert wie eine „Rasse“.

Der Zusammenhang zwischen Rassismus und Sexismus besteht insofern, als eine Kontrolle über Frauen notwendig ist, nicht nur damit die Frauen sozusagen die „Klasse“, sondern auch die „Rasse“ reinhalten. Diese Funktion von Frauen findet man in allen rassistischen Ideologien. Während bei Rassismus die andere Gruppe letztendlich biologisch definiert ist, muß das für den Begriff „Nation“ nicht unbedingt gelten. Ich kann ja auch eine Nation definieren, die sich historisch verändert, der — wie in der französischen Geschiche — all diejenigen angehören, die sich zu bestimmten politischen Werten bekennen.

Der deutsche Nationenbegriff ist dagegen biologisch, völkisch begründet. Alle, die als Deutsche geboren sind, sind Teil der Nation. In dem Moment, wo sich Rassismus mit Nationalismus verknüpft, wo man die eigene Nation biologisch und als höherwertig definiert, kann man von einer einigermaßen stabilen rechten Ideologie sprechen.

Welche antirassistischen Strategien folgen Ihrer Analyse?

Es geht um die Entwicklung von Handlungsfähigkeiten, um Rassismus zurückzudrängen. Es ist ja im Grunde eine verkehrte Form, Handlungsfähigkeit zu entwickeln, indem man gegenüber dem Anderen die Kontrolle ausübt, die man über seine eigenen Lebensbedingungen nicht ausüben kann.

Im Grunde ist es nötig, in allen gesellschaftlichen Bereichen, in denen Rassismus auftaucht, mit den Deutschen auf den Punkt zu kommen, daß das Problem in gesellschaftlichen Strukturen liegt, gegen die sie selbst nicht angehen. So ist es zum Beispiel für Lehrer einfacher, an türkischen Kindern herumzudoktern, als zu sagen, diese Art, wie Schule hier bei uns organisiert ist, ist beschissen. Diese Strategie der Entwicklung von Handlungsfähigkeit ist zwar die einzig langfristig wirksame, aber andererseits eine, auf die man sich nicht beschränken sollte.

Parallel dazu muß eine Möglichkeit geschaffen werden, daß Einwanderer zum politischen Subjekt in dieser Gesellschaft werden. Das werden sie nur, wenn sie gleiche politische und soziale Rechte haben. Man muß versuchen, alle gesetzlichen Möglichkeiten durchzusetzen, die rassistische Praxen erschweren, zum Beispiel Antidiskriminierungsgesetze. Das läßt zwar den Rassismus nicht verschwinden, erleichtert aber das Leben der Einwanderer. Und das ist absolut nötig.

Eine Definition über die Kultur ist zweischneidig

Wie hilfreich oder problematisch ist in diesem Prozeß das Schlagwort von der „multikulturellen Gesellschaft“ als antirassistischer oder ausländerfreundlicher Ansatz?

Damit betreiben sehr viele Leute eine sehr unterschiedliche Politik. Positiv am Auftauchen dieses Schlagworts finde ich, daß in der Öffentlichkeit begonnen wird, klarzumachen, daß die Bundesrepublik nicht rein deutsch ist, sondern daß sie aus Leuten besteht, die aus vielen Weltgegenden kommen, und daß das auch so bleiben beziehungsweise sich weiterentwickeln wird. Doch schon eine Definition über die Kultur, die verschiedenen Kulturen, hat immer zwei Seiten.

Es ist richtig, wenn man erkennt, daß es verschiedene Lebensweisen gibt, andererseits besteht aber die Gefahr, daß man Leute auf diese Lebensweisen und die Verschiedenartigkeit reduziert und insofern wieder seinen Anderen hat, den man konstruiert. In der Aussage, die multikulturelle Gesellschaft sei eine Bereicherung für uns, steckt aber auch die Aufforderung an die Einwanderer, daß sie uns bereichern müßten. Sie sollen jetzt also ihre Existenz nicht mehr dadurch legitimieren, daß sie arbeiten und Steuern zahlen, sondern indem sie unsere Kultur bereichern. Damit steckt in „multikulturell“ auch eine Aufforderung an die Einwanderer, gefälligst so zu bleiben, wie sie sind. „Multikulturelle Gesellschaft“ ist also ein relativ gefährlicher Begriff.

Der wissenschaftliche Diskurs zum Thema Rassismus ist in anderen Ländern viel weiter gediehen als in der Bundesrepublik. Auch Antidiskriminierungsgesetze sind woanders schärfer. Woran liegt das?

Das hängt mit dem deutschen Faschismus zusammen. Man muß bedenken, daß seit 1880 Deutschland eigentlich ein Einwanderungsland ist und verschiedene ethnische Gruppen oder Kulturen — oder wie man das auch immer nennen will — bei sich beherbergt und zum Teil auch mit sehr viel mehr Rechten ausgestattet hat als heute.

Erst im Faschismus wurde im Gesetz verankert, daß zum Volk nur diejenigen gehören, die deutschen oder artverwandten Blutes sind. Das ist eine biologische Definition von Volk und Nation. Im Zuge dieser Festsetzung wurde zum Beispiel Juden und „Zigeunern“ die Reichsbürgerschaft aberkannt. Man hat aber nicht nur gesetzlich festgelegt, sondern auch durch Vernichtung durchgesetzt, daß diese anderen nicht mehr Teil des Volkes sein sollten.

Als Resultat dieser Vernichtungspolitik, dieser Ideologie und Praxis im Faschismus, ist völlig aus dem Gedächtnis verschwunden, daß in Deutschland immer verschiedene Gruppen von Menschen gelebt haben. Zur Gründung der Bundesrepublik gehörte ja die Ideologie der Stunde null: Alles fange von vorn an, nichts, was im Alten war, wird im Neuen wieder vorkommen. Das bedeutet natürlich, daß es in der Bundesrepublik offiziell auch keinen Rassismus geben durfte.

Wenn es aber offiziell keinen Rassismus geben darf, braucht man natürlich auch keine Antirassismus- und Antidiskriminierungsgesetze und auch keine Rassismusforschung. Deswegen stellt die Bundesrepublik in Europa eine Ausnahme dar. Interview: Bernd Siegler