Israel vor sich selber retten

Am Ende des Jahres3 der Intifada zeigt sich der jüdische Staat unnachgiebiger denn je/ Einwanderungspolitik und Golfkonflikt treiben die Palästinenser in Existenznot/ Gewaltausbrüche scheinen unvermeidbar, solange Schamirs Kabinett das Palästinaproblem im Schatten der Golfkrise zu „regeln“ versucht  ■ Aus Tel Aviv Amos Wollin

Faisal Husseini, einer der einflußreichsten palästinensischen Führerpersönlichkeiten in den von Israel besetzten Gebieten, erklärte uns vor einem Jahr, wie der palästinensische Aufstand, die Intifada, sich selbst immer wieder vor neue Aufgaben stellt. Im ersten Jahr hatte sie sich den innerpalästinensischen Umbruch zum Ziel gesetzt. Eine ganze Gesellschaft begann sich gründlich zu verändern und für die Stadien im Kampf gegen die Besatzungsmacht zu wappnen. Im zweiten Intifadajahr ging es darum, die internationale Unterstützung, die Weltöffentlichkeit für das Unabhängigkeitsbestreben der Palästinenser zu gewinnen. Nicht die „Vernichtung Israels“, sondern die Realisierung einer Zweistaatenlösung: Palästina als souveräner Staat dort, wo jetzt die besetzten Gebiete sind, in friedlicher Koexistenz mit Israel.

Erst das dritte Jahr des palästinensischen Aufstands sollte auch die israelische Gesellschaft von der Notwendigkeit des Rückzugs, einer Zweistaatenlösung und von dem dafür notwendigen Dialog mit den Vertretern der Palästinenser — der PLO — überzeugen.

Aber die Ereignisse der vergangenen zwölf Monate, dem Jahre3 der Intifada, haben die Pläne der Palästinenser über den Haufen geworfen. Wesentlich dazu beigetragen hat die Bildung einer rechtsextremen Regierung in Israel und der Zusammenbruch der friedensorientierten Oppositionsfront — vor allem im Zuge der Golfkrise. Die totale Absage der Schamir-Koalition an jedwede Initiativen, die zu Verhandlungen zwischen der israelischen und palästinensischen Seite führen könnten, spricht für sich. Auch das Einfrieren aller Gespräche mit der PLO, wie es die Bush-Administration getan hat, sowie die Unterbrechung der Kontakte zwischen israelischen und palästinensischen Vertretern in Jerusalem, die offizielle Friedensverhandlunvorbereiten, hat zur Eskalation des Konflikts beigetragen. Der Araberhaß ist intensiver geworden und ebenso die rassistischen Ausschreitungen seitens der jüdischen Bevölkerung, während sich einzelne Racheakte von Palästinensern auf das Gebiet des jüdischen Staates selbst auszubreiten begannen.

Die Hoffnungslosigkeit angesichts der blockierten Friedensinitiativen spielte den extremen islamisch- fundamentalistischen Organisationen in die Hände und gab sowohl dem „Islamischen Jihad“ als auch der „Hamas“-Bewegung starken Auftrieb. Eine weitere Ursache für das Erstarken radikaler und gewalttätiger Gruppen im dritten Intifadajahr liegt in der zunehmenden wirtschaftlichen Not, die in dieser neuen Phase vor allem ihren Grund in der Golfkrise hat. 400.000 Palästinenser in Kuwait, von denen 30.000 nach der irakischen Invasion geflohen sind, haben insgesamt zwischen zweieinhalb und viereinhalb Milliarden Dollar verloren; 300 Millionen Dollar — jedes Jahr an Privatleute und Institutionen in den besetzten Gebieten überwiesen — blieben aus. Weitere 500 Millionen Dollar, welche die arabischen Golfstaaten der PLO zu schenken pflegten, kamen nun wegen politischer Differenzen nicht mehr zur Auszahlung. Dies alles vor dem Hintergrund einer um 20 Prozent gesunkenen Kaufkraft des jordanischen Dinars, der bevorzugten Währung in den besetzten Gebieten. Soziale Projekte, etwa der Bau eines Spitals in Hebron, blieben wegen Geldmangels unvollendet.

Grund zur Verzweiflung unter den Palästinensern gibt es mehr als genug: Arbeitslosigkeit und Armut, härtere Unterdrückungsmaßnahmen und Kollektivstrafen, ständige Grausamkeit, Schikane und Demütigung. Die Überfüllung in den Flüchtlingslagern und Städten, besonders in den langen Tagen der Ausgangsperre (zum Beispiel im Lager Djebalia, Gazastreifen, 273 Tage „curfew“ seit Beginn der Intifada), ist unerträglich geworden, gleichfalls Häuserzerstörungen und Internierungen. Groß ist die Zahl der Verwundeten und Toten seit dem Intifadabeginn, nach jüngsten UNO-Angaben allein im Gazastreifen 48.520 Verletzte und 276 Todesopfer; unter den Verwundeten waren 38 Prozent Kinder unter 14, und 20 Prozent Kinder unter den Toten. Zermürbend wirkte sich aber vor allem die politische Lage aus, die im Laufe des Jahres 1990 zusehends bedrückender und perspektivloser erschien, und zwar umso mehr, als sich die Palästinenser von aller Welt und insbesondere von den Vereinten Nationen vergessen und verlassen fühlten.

Doch damit nicht genug. Zwei traumatische Ereignisse wirkten verheerend: Der Mord im Mai an sieben palästinensischen Arabern in Rschon Lezion bei Tel Aviv, und im Oktober die Erschießung von mindestens 18 Palästinensern am Platz vor den großen Moscheen in der Jerusalemer Altstadt. Daß es aufgrund dieser Situation neuerdings auch vereinzelt Racheakte und spontane Ausbrüche der Verzweiflung unter den Palästinensern gab, individuelle Mordangriffe auf Israelis auch außerhalb der besetzten Gebiete, hat viele Bürger in Angst versetzt und erstmals mit dem Problem des Zusammenlebens mit dem entrechteten Nachbarn konfrontiert.

„Tod allen Arabern“ auf die Fahnen geschrieben

Was Wunder, daß sich rasch Furcht oder Haß und Parolen wie „Tod allen Arabern“ und „Palästinenser raus“ in allen Bevölkerungsschichten Israels ausbreiteten. Zivilisten bewaffneten sich mit Pistolen und Messern, Polizei und Sondereinheiten ergriffen scharfe Präventivmaßnahmen gegen Araber. Betriebe begannen ihre weit unter Niveau bezahlten palästinensischen Angestellten zu entlassen und ersetzten sie durch jüdische Arbeitslose, vor allem Neueinwanderer aus der Sowjetunion. Das Ansinnen der Regierung, die Zahl der in Israel arbeitenden Palästinenser um mindestens die Hälfte zu reduzieren, treibt die Arbeitslosigkeit und Not in den besetzten Gebieten so weit in die Höhe, daß die Lage dort explosiv wird.

Gleichzeitig ist die Einheit der Palästinenser gegen die Besatzungstruppen bedroht. Politische Differenzen und Spaltungen arten jetzt leicht in interne Kämpfe aus, die sogar zu Morden führen. Die Kontroverse über Endziele des Kampfes und die Art des Widerstands wird vor allem zwischen den islamischen Gruppen (Jihad und Hamas) einerseits und der „Nationalen Führung der Intifada“ (einer der PLO angegliederten Koalition) andererseits geführt. Allerdings gibt es ernste Meinungsverschiedenheiten auch innerhalb der „großen“ Lager, die interne Auseinandersetzungen und Spaltungen zur Folge haben. Umstritten ist, welche Mittel beim weiteren Vorgehen gegen die Besatzungsmacht anzuwenden sind: Soll man im Rahmen der „Steinzeit“ bleiben oder besser zu den Waffen greifen, die bestimmt viel mehr Opfer in den eigenen Reihen fordern.

Seit Beginn der Golfkrise ist der Dialog zwischen Israels friedensorientierten Oppositionskreisen und Palästinenserführern in Ost-Jerusalem praktisch abgebrochen. Die palästinensischen Persönlichkeiten, die auf den „Hitlisten“ der rechtsextremen Gruppen in Israel stehen und in der letzten Zeit aufwendig bewacht werden müssen, treten nur noch selten vor einem israelischen Publikum auf. Feisal Husseinis Wunsch, das dritte Intifadajahr der Öffentlichkeitsarbeit zu widmen, um Israels Bevölkerung von der Berechtigung der Intifadaziele zu überzeugen, blieb unverwirklicht.

Nach Ansicht des politischen Psychologen Professor Daniel Bartal von der Universität Tel Aviv, der seine Meinung auf Resultate von Umfragen stützt, würden bei Neuwahlen in Israel heute die rechten und rechtsextremen Listen einen großen Sieg davontragen. Denn sie schlagen scheinbar handgreifliche Lösungen wie das Abschieben der palästinensischen Bevölkerung vor oder einfach mit der Intifada kurzen Prozeß zu machen. Die Parteien des linken Spektrums hingegen machen moralische Argumente geltend, werben für Konzessionen und eine friedliche Beilegung der Auseinandersetzungen — langfristige Programme, die schon deshalb keinen Anklang finden, weil die Bevölkerung rasche und radikale Gewaltlösungen fordert.

Ein kaum zu übersehender Faktor ist und bleibt die Golfkrise mit ihrer Ausstrahlung auf die Gesamtregion. Sie hat wesentlich dazu beigetragen, die Frontlinie zwischen israelischen Besatzern und palästinensischen Befreiungskämpfern in ein schärferes Licht zu rücken und somit die Beseitigung der israelisch-arabischen Konfrontation dringlicher zu machen. Irak besteht auf der „linkage“, also der Verknüpfung beider Konflikte, Israels Regierung lehnt sie ab, und die Washingtoner Administration verspricht, daß es keine geben wird. Die Zusammenhänge sind jedoch eindeutig, und auch ohne formelle „linkage“ ist sich die Welt im großen und ganzen einig, daß gleich nach einer Lösung der Golfkrise der israelisch-arabische Disput auf der Tagesordnung der Diplomaten steht. Die anstehende weitgehende Veränderung der gesamten Region wird bestimmt nicht vor Israel-Palästina haltmachen, ein Konfliktherd, der in den vergangenen Jahrzehnten ein halbes Dutzend Kriege im Mittleren Osten auslöste und als einer der zentralen Destabilisierungsfaktoren gilt.

Das Kabinett Schamirs erhoffte sich die unverzügliche militärische Niederlage Iraks, bei gründlicher Zerstörung der militärischen Infrastruktur des Landes. Indes, die Aussicht auf einen möglichen politischen Kompromiß hat panikartige Reaktionen in Jerusalem ausgelöst. Sprecher der Regierungsparteien stellten klar, daß sich Israel bemühen wird, einen solchen Kompromiß zu verhindern. Man sprach von „Kapitulation“ und einem groben Fehler der Regierung Bush, der womöglich die prowestlichen Regime in dieser Weltgegend zu Fall brächte.

Auf der palästinensischen Seite gab es eine gewisse Erleichterung über eine mögliche Verhandlungsbereitschaft zwischen Saddam Hussein und den USA. Aber Vorsicht und Wachsamkeit scheinen dort auch weiterhin geboten: ein Krieg — mit oder ohne Israels Beteiligung — ist weiterhin nicht ausgeschlossen. Von Seiten Israels, so die Überzeugung der Palästinenser, würde jede Explosion im Golf sogleich zur dringenden „Erledigung der Großisrael- Agenda“ ausgenützt. Im Lärm des Golfgefechts kann — fast unbemerkt von der übrigen Welt — einiges getan werden, um „die Palästinenser loszuwerden“. Die Parteien des rechtsextremen Flügels der Regierungskoalition verlangen nämlich dringend ein Annexionsgesetz, das den arabischen Bevölkerungstransfer und die Einverleibung der besetzten Gebiete regelt. Als Alternative zur Massenvertreibung bleibt dann den Palästinensern lediglich die Fortsetzung der Intifada und den Israelis der andauernde Kampf mit ihr übrig — bis die Fremdherrschaft schließlich fällt.

Doch das ist wohl nur unter Beteiligung der USA sowie der europäischen Mächte denkbar, wahrscheinlich sogar nur im Rahmen eines Konzepts der Vereinten Nationen. Allein dann würden sich auch die politische Opposition und die Reste der Friedensbewegung in Israel zur Tätigkeit aufraffen. Dort glaubt niemand mehr an die alte Illusion von einem Großisrael, wo rechtlose Palästinenser ergeben unter ständiger Besatzung leben. Langsam werden der Bevölkerung die Bedingungen des Zusammenlebens zu riskant. Will Israel Einwanderungsland für die Sowjetjuden werden und will es diese Massen in den Arbeitsprozeß einer mehr oder weniger normal funktionierenden Wirtschaft eingliedern, um sich dem EG-Markt bis 1992 anzupassen, dann kann sich der Staat keinen Kriegszustand mit seiner nächsten Umgebung leisten. Es sei denn, die hochverschuldeten USA finanzieren auch weiterhin die kostspielige Existenz Israels, was eher unwahrscheinlich ist.

„Israels innere und äußere Katastrophe verhindern“

International erfahrene Politiker wie der einstige Vizeaußenminister der USA, George Ball, der sein Land auch in den UNO vertrat, prägte schon vor vielen Jahren das Wort von der „Notwendigkeit, Israel vor sich selbst zu retten“. Eine ähnliche Version stammt von dem greisen jüdischen Religionsphilosophen, Arzt und Naturwissenschaftler Professor Jeschajahu Leibowitz aus Jerusalem: „Wenn es den Ansätzen einer organisierten Opposition in Israel nicht gelingt, eine Regierungspolitik zu ändern, die das Recht der Palästinenser auf politische und nationale Selbständigkeit negiert, dann muß es zu einer inneren und äußeren Katastrophe kommen. Oder aber die Rettung kommt von außen: indem die Großmächte eine Teilung des Landes erzwingen. Dann haben wir die historische Ironie, daß die Nichtjuden den Staat Israel vor den Juden gerettet haben.“