Die schlechten Verlierer

■ Über die Paradoxien der rot-grünen Krisenbewältigung DEBATTE

Natürlich gibt es besonders schlechte Verlierer. Etwa die ehemalige Berliner Kultursenatorin Anke Martiny, deren Amtsführung im Hohn endete: Sie brachte es auf dem Landesparteitag der SPD in Berlin fertig, Lafontaine vorzuwerfen, daß er nach dem Attentat sich in Spanien schonte, während Schäuble im Rollstuhl die Amtsgeschäfte aufnahm. Überhaupt ist es schlechter Stil (und überdies dumm), wenn in der SPD über die Unverträglichkeit Lafontaines mit dem Parteimilieu spekuliert wird. Die Sozialdemokraten lassen sich absurderweise von den Konservativen eine masochistische Hedonismuskritik aufschwatzen, als ob gerade der Lebensgenuß ihres Kandidaten nicht mehrheitsfähig gewesen wäre, als ob vor allem Opferbereitschaft und parteiamtlicher Puritanismus die Partei wieder näher zur Realität zurückführen könne. Schlecht verlieren heißt auch, übers „Auslaufmodell Rot- Grün“ zu räsonieren, und schlecht ist es überhaupt, den gescheiterten Versuch mit einer neuen Mitte zum Anlaß zu nehmen, sich nun panisch der alten Mitte anzudienern. Von den grünen Artisten des Scheiterns und ihrer in Mitteleuropa einzigartigen Vorwurfskultur soll hier geschwiegen werden. Zugestanden: Eine solche Wahlniederlage lähmt. Aber was die Opposition jetzt treibt, das ist eine merkwürdige Leidenschaft, aus einer politischen Niederlage eine existentielle Erfahrung zu machen.

Rot-grüner Problemaustausch

Dabei herrschte eine valentineske Paradoxie, die eher den Humoristen reizt als den Polemiker. Diese Niederlage hat die rot-grüne Gemeinsamkeit vollendet, im Stile von Moltke paradox: vereint marschieren und getrennt geschlagen werden. Lafontaine hat einen erfolgreichen Wahlkampf der Grünen geführt zum Schaden seiner Partei und der Grünen selbst. Aber die Gemeinsamkeit beider Parteien geht noch weiter: Beide Parteien streiten fast autistisch für sich über genau die Probleme, die jeweils die andere Partei hat. Für die SPD steht vor allem fast ausschließlich ein Streit über die Inhalte an — nicht nur, weil die Sozialdemokraten im Jahre 1990 hilflos zwischen der wahren Partei der Wiedervereinigung und der Klage über die Kosten der Einheit schwankte. Die SPD steht insbesondere vor dem Problem, wie eine Volkspartei in einer gespaltenen Gesellschaft aussehen soll, wie sie der politischen Mitte des Westens, die Angst hat vor der Verostung, und der Mitte des Ostens, die Angst hat, daß die westlichen Verhältnisse unerreichbar bleiben, eine gemeinsame Antwort geben kann. Daß dies das entscheidende Problem ist, hat der Wahlkampf von Lafontaine in dankenswerter Klarheit offengelegt. Statt dessen betreibt die SPD die Personaldebatte, die die Grünen führen müßten. Dieser Streit um den Parteivorsitz und andere Machtpositionen ist jedenfalls eine hausgemachte Krise. Die Parteiführung hat ihren Kandidaten mit der Frage absichtsvoll brüskiert. Wenn Willy Brandt zudem noch die Gelegenheit zur Demontage Lafontaines benutzt, dann war das selbstinszenierte Führungsdesaster zu erwarten. Die Ironie ist, daß im Parteirat gewissermaßen Verlierer Verlierer Verlierer schimpften. Denn Willy Brandt hat schließlich die erste Wahlkampfkampagne am 18. März verloren. Er hat das nationale Thema praktisch für die CDU erkannt. Jedenfalls ist die Sozialdemokratie sowohl in ihrer Zustimmung zur Einheit als auch in ihrem Ressentiment gegen die Einheit gescheitert. Sie steht vor der ungelösten Frage, woher in einer radikal gewandelten deutschen Gesellschaft eine Perspektive diesseits der Mitte herkommen soll.

Vom grünen Jargon der Grundhaltung

Die Grünen wiederum diktieren sich eine unübersichtliche Last von Inhaltsdebatten, Strukturdebatten und Generalaufarbeitungen zu, während sie in erster Linie vor einer Personalfrage stehen. Dabei ist der inhaltliche Streit längst beendet. Die Linkssektierer haben schon vor Zeiten politisch aufgegeben. Aus dem Streit mit ihnen ist nichts mehr zu gewinnen. Natürlich haben die Grünen ähnliche Schwierigkeiten mit der deutschen Einheit wie die Sozialdemokratie; aber sie haben vor allem 600.000 Wähler an Lafontaine verloren, die eben diese Schwierigkeiten hatten. Für die Grünen geht es bekanntlich ums Überleben. Bei den entscheidenden Fragen — Wer sind die Grünen? Wer kann sie aus dem Loch wieder herausführen? Von welchem Teil der Partei kann die Erneuerung kommen? — liegt die Antwort auf der Hand: Nur mit den Grünen, die die Niederlage in ihrer vollen Dimension erkennen, kann noch grüne Politik gemacht werden. Der Rest gehört zu den Sektierern irgendwo zwischen Hafenstraße und PDS, zwischen den 20er Jahren und der Zukunft einer befreiten Gesellschaft, zwischen El Salvador und dem Wetter im Jahre 2005. Völlig überflüssig und schädlich ist, wenn jetzt die alte und öde Routine der Strömungskompromisse fortgeschrieben wird. Absurd und denktötend ist, nach gemeinsamen Grundlagen in einer „antikapitalistischen Grundhaltung“ zu suchen. Formeln dieser Art sind nur das Kauderwelsch einer abgrundtiefen Entfremdung, die durch nichts mehr zu verändern ist. Die Partei muß aufhören, überhaupt in „Grundhaltungen“ herumzustöbern. Die sollte sie den Individuen überlassen. Genau das ist die moderne These der Bürgerrechtsbewegung der ehemaligen DDR, die ihre Chance im Bundestag erhält. Sie will nicht Organisator von Grundhaltungen sein, sondern Ferment demokratischer Prozesse im politischen System dieser Republik.

Es kann vermutet werden, daß die überwiegende Mehrheit der wirklichen Basis und eben die Politiker, die wirklich Tagespolitik gemacht haben, die Niederlage begreifen und sie schon vor der Wahl ernsthaft befürchtet haben. Nur diese Konstellation ist fähig, weiterhin Politik zu machen. Die ganze Funktionärsclique, die jetzt den Ämtern und der Identität nachtrauert, hat nicht zuletzt das progressive Verstummen der Partei zu verantworten. Politikerinnen und Politiker wie Antje Vollmer und Joschka Fischer machen einen Fehler, wenn sie jetzt erst die Strukturreform oder die Urabstimmung über die Parteilinie fordern, bevor sie sich persönlich mit dem Schicksal der Grünen verbinden. Die Partei braucht jetzt vor allem eine Stimme und ein Signal, daß jetzt die ganze strömungspolitische Schlangengrube verlassen wird. Bei einer derartigen Existenzkrise ist die Verdrängungsbereitschaft und Lust an der Vorwurfsdebatte viel zu groß, als daß man vom Streit über Inhalte große Anstöße erwarten könnte. Aber die Gefahr ist groß, daß die SPD und die Grünen in ihrem geheimnisvollen Austausch der Probleme fortfahren, so daß die SPD ihre Personalkrise auf Kosten der Inhaltsdebatte löst und den Hoffnungsträger der Fußgängerzone, Engholm, aufs Schild hebt; während die Grünen die Inhaltskrise auf Kosten der Personaldebatte lösen und ein neues linksalternatives Projekt aus der Taufe heben, mit dessen Deutungsschwierigkeiten die Zeit bis zu den Wahlen von 1994 überbrückt werden kann.

Im Augenblick geht es vor allem um die Frage: Wer mit Wem? Die Politikerinnen und Politiker, die in diesem Jahr immerhin politisch etwas zu sagen hatten, die eine Sprache haben, in der auch die Realität ausgedrückt wird, müssen jetzt die Entscheidung suchen. Sie haben einfach auch die politische Verantwortung, ein persönliches Risiko einzugehen. Die grüne, sektiererische Sicherheitspolitik (die Politik der sicheren Identität, der sicheren Umweltkatastrophe, der sicheren Minderheit) überzeugt in einem Deutschland unvorstellbarer Widersprüche nicht mehr. Und es alarmiert, daß die führenden Grünen ihrer Partei Vorab- Garantien der Änderungswilligkeit zumuten, statt ihre Person mit der Änderung zu identifizieren. Die Öffentlichkeit, die zumindest in Westdeutschland mit den Grünen sympathisiert, wartet auf ein Signal des Überlebenswillens. Und die Bürgerrechtsbewegung hat den unmißverständlichen Anspruch der Politikfähigkeit gegenüber den Grünen formuliert. Eine Strukturdebatte ist nur ein Signal für die Permanenz der Krise. Der erste Schritt beginnt mit einem handlungsfähigen Vorstand. Klaus Hartung