Westeuropäische Sicherheitsdiskussionen

Unterschiedliche Prioritäten der EG-Länder: Rom setzt voll auf EG-Militärunion/ Paris will „europäischen Pfeiler“ der Nato stärken/ Den Haag baut auf die WEU/ Bonn versucht, sich alle Optionen offenzuhalten  ■ Von Andreas Zumach

Die Diskussionen über die Weiterentwicklung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft hin zu einer politischen Union sowie die aktuelle Golfkrise haben in den letzten Monaten zu einer Intensivierung und Konkretisierung der Debatte um eine künftige sicherheits- und militärpolitische Rolle Westeuropas geführt. Gestern befaßten sich die Außen-und Verteidigungsminister der Westeuropäischen Union (WEU) in Paris mit diesem Thema, am vergangenen Freitag in Brüssel die Nato-Verteidigungsminister.

Kommenden Montag werden die Nato-Außenminister das Verhältnis EG-WEU-Nato ausführlich diskutieren. Vom Gipfeltreffen der EG- Regierungschefs Ende dieser Woche in Rom werden erste Weichenstellungen in dieser Frage erwartet. Dem Gipfel liegen eine Reihe von Dokumenten vor, die die unterschiedlichen Positionen der EG- Staaten markieren.

Die Länder Westeuropas müssen ihre Außen- und damit auch ihre Sicherheitspolitik künftig stärker koordinieren. Darüber herrscht heute breiter Konsens in allen politischen Lagern der zwölf EG-Staaten — mit Ausnahme der Grünen und einiger kleinerer sozialistischer Parteien. Der Hauptdissens liegt in der Frage, ob die Koordination sicherheitspolitischer Interessen auch eine gemeinsame Verteidigungspolitik mit einer integrierten militärischen Struktur bedeutet, und wenn ja, wo diese anzusiedeln ist.

Am weitesten in diese Richtung geht die von Außenminister Giovanni de Michaelis verfaßte Vorlage der italienischen Regierung für das EG-Gipfeltreffen in Rom. Die Italiener plädieren für ein umfassendes sicherheits-und verteidigungspolitisches Mandat der EG ohne jede Einschränkung. Die EG solle einen Teil der bisherigen Funktionen der Nato sowie sämtliche Aufgaben der WEU übernehmen, deren 1998 auslaufendes Mandat nicht verlängert werde solle. Zu den künftigen EG- Kompetenzen zählt die italienische Regierung ausdrücklich auch militärische Einsätze außerhalb Westeuropas.

Heftigen Widerspruch gegen diese Variante meldeten Ende letzter Woche die Parlamentarier der WEU an. Sie wandten sich gegen jegliche Verlagerung ihrer bisherigen Kompetenzen auf die EG-Ebene und nannten zugleich eine Reihe neuer Aufgaben, die die WEU künftig wahrnehmen solle. Bedenken gegen den italienischen Vorschlag gibt es auch bei der niederländischen Regierung. In ihrem Positionspapier für den EG-Gipfel heißt es: „Die europäische Kooperation in der Verteidigungspolitik im engeren Sinne wird weiterhin im Kontext der WEU als Ergänzung zur Kooperation in der Nato stattfinden, wie dies auch bislang der Fall ist.“ Eine Übernahme aller WEU-Funktionen im Zuge der Entwicklung der EG zur „Politischen Union“ brächte „keinen Fortschritt für die Kooperation der Außen-und Sicherheitspolitik“ argumentiert die Regierung in Den Haag.

Auch im Bonner Außenministerium gibt es Bedenken gegen eine Militarisierung der EG-Außenpolitik, zumindest zum jetzigen Zeitpunkt. Sie decken sich weitgehend mit denen, die der sicherheitspolitische Experte der SPD, Bahr, letzte Woche in einem Interview mit der taz formulierte.

Das Instrument EG soll in den nächsten Jahren zunächst zur politischen und wirtschaftlichen Integration neutraler sowie osteuropäischer Staaten zur Verfügung stehen. Die Entwicklung einer EG-Verteidigungs-und Militärpolitik könnte diesen Prozeß erheblich stören oder gar unmöglich machen. Bahr, und mit ihm die Sozialdemokraten/Sozialisten in der BRD wie im EG-Parlament, sprechen sich daher zwar für eine „Koordinierung sicherheitspolitischer Interessen“ innerhalb der EG aus, wollen aber die militärischen/verteidigungspolitischen Aufgaben vorerst in der Nato belassen. Sie definieren allerdings nicht klar, wo die Grenze verläuft. Bahr plädiert darüber hinaus — in Absage an die KSZE — für die Nato als Basis einer künftigen gesamteuropäischen Sicherheitsstruktur. Wobei die Frage bislang nicht beantwortet wird, wie sich die Nato verändern müßte, damit diese Variante überhaupt akzeptabel für die UdSSR und andere osteuropäische Staaten werden könnte.

Die Bundesregierung fährt derweil mehrgleisig und versucht, sich alle Optionen offenzuhalten. Innerhalb der Nato setzt sie sich nach Kräften für eine weitere militärische Präsenz der USA in Westeuropa vor allem auch mit Atomwaffen ein. Nur so läßt sich aus Bonner Sicht verhindern, daß die Franzosen mit ihrer atomaren Streitmacht eine dominante Stellung unter den Westeuropäern einnehmen. Zugleich verabschiedet Bundeskanzler Kohl — wie Ende letzter Woche — mit Mitterrand gemeinsame Initiativen an die anderen EG-Partner für „eine Politische Union mit einer echten gemeinsamen Sicherheitspolitik, die am Ende zu einer gemeinsamen Verteidigung führen soll“. Aber auch die Karte WEU will Bonn im Ärmel behalten. Innerhalb der WEU beteiligt sich die Bundesregierung aktiv an Überlegungen zur besseren Koordinierung der nationalen Streitkräfte der neun Mitgliedsländer bei Einsätzen außerhalb Europas — auch wenn sich die BRD daran auf Grund der Verfassungslage (noch) nicht beteiligen kann.

Endgültige Entscheidungen darüber, ob und in welcher Form sich künftig eine eigenständige westeuropäische Verteidigungs-und Militärpolitik formiert, dürften erst dann fallen, wenn die sicherheitspolitische Debatte unter den französischen Sozialisten zu einem Ergebnis gekommen ist. Die dort derzeit vorherrschende Mehrheitslinie ist in einem Papier formuliert, das der ausschließlich aus französischen Sozialisten bestehende Beraterstab von EG-Kommissionspräsident Delors für den EG-Gipfel in Rom formuliert hat. Das Delors-Papier spricht sich weder für die Variante EG noch — wie etwa die Niederländer — für die Option WEU/Nato aus. Seine Autoren setzen statt dessen auf die Stärkung des „europäischen Pfeilers“ in der Nato.

Der Nato-Oberkommandierende (SACEUR) solle künftig nicht mehr von einem US-Amerikaner, sondern von einem Westeuropäer gestellt werden. Daraus ergäbe sich auch eine weit größere Verantwortung der Westeuropäer für die Atomwaffen der Allianz. Allerdings gibt es keine Bereitschaft Frankreichs, sich wieder voll in die militärische Integration der Nato zu begeben. Bei der Verteidigungspolitik unter nationaler Verantwortung und bei der eigenständigen Atomwaffenstreitmacht soll es bleiben.