Die Reise nach Berlin

■ Zwischen Hannover und Hauptstadt begegnen sich Menschen wieder, die sich noch nie gesehen haben

Das heißeste Fisch-Abteil der Reichsbahn. Im Dunst aufgelöste Flundern, aufgeräuchert von Dannemann Brasil, Geruch wie Nebelwolken in Schweißfußmoschus, alles gesättigt von einer Intimität, die sich herstellt über Narben, Krankenhausaufenthalte, Fieberkurven, Stuhlgang. Anamnesen kreuzen die Klinge, Biographien verketten sich. Eine Abteilgeschichte von Volker Heise.

Helmstedt, da war doch was, der Flecken Straßen, Häuser an einer Autobahn, Eisenbahnstrecke, wird nur noch in Putzgers historischem Weltatlas festgehalten als Grenzübergangsstelle: und jetzt? Wechselt gerade noch die Zugmaschine der Eisenbahn, von E-Lok auf Dieselmotor; schon vibriert der Zug anders, auch das Geräusch der Fahrt ist nicht mehr das gleichmäßige Rauschen des Windes an den geschlossenen Fenstern vorbei, bekommt kleine Böen, jedenfalls unregelmäßig, und das, noch bevor die Räder beginnen, zwischen den unausgeglichenen Schienen des Ostens zu springen, an gefährlichen Stellen, alten Fahrthasen der Strecke Hannover-Berlin bekannt, werden im Speisewagen die Gläser festgehalten, Gottogott, was hier schon alles zu Bruch gegangen ist, welch ein Spaß, wenn der Kellner auf einem Strammen Max ausrutschte und eine lange Spur Radeberger Pilsener hinterließ.

Aber nun einen Blick aus dem Fenster des Abteils geworfen, zu sehen ist historisches Brachland: die Zonengrenze; da wächst nichts mehr zwischen den Mauern und den Drähten, Unkraut-Ex-gejätet, aber von der Ostsee bis in den Bayerischen Wald sauber geharkt, alles pikobello, nur Spuren von Republikflüchtlingen drauf, an der Schuhgröße konnten sie erkennen, wer abgehauen war, heute alle mit 42er Latschen, gab's 'ne Kartei für, in Berlin, mit Statistiken, welche Schuhgrößen am liebsten in den Westen gehen: und haste die gehabt, durfteste nicht mehr studieren.

Da wird das Abteil stumm wie betroffen, schlimm ist das, schaut auf das letzte deutsch-deutsche Karnickel, wie es in Zickzacklinien über den Grenzstreifen jagt; man hofft erwartungsfroh auf eine übersehene Mine, denn dann könnte es heißen: Ade, Karnickel, pulverisierte Knochen des Tierchens legen sich als feiner Staub auf den Zonenrand, nur ein Ohr ist heil geblieben und flattert wie ein Blatt im Wind. Ach, wenn ich ein Vöglein wäre, dann flöge ich zu dir, singen dereinst von Grenzern erledigte Karnickelengel zur Begrüßung ihres Kumpels: wurde auch Zeit, alter Junge, die Saison ist vorbei. Doch schade, schade, heute keine Mine, nur ein Sightseeing-Bus auf der beliebten Mielke-Horror-Tour, vollgepackt mit japanischen Kameras, die eigentlich zur Berliner Mauer wollten, das Brandenburger Tor in handtellergroßen, halbrunden Kuppeln voller Wasser, wenn man schüttelt, fällt kein Schnee, nein, das sind kleingehackte Stücke Mauer, Reste eines Graffito, das dem Dalai Lama gewidmet war. Und noch Hunderte von Kilometern nach Berlin.

Der einarmige Mann am Fenster, gerade geht der Zug in eine gefährliche Schräglage, beschreibt mit dem Armstumpf einen Bogen, rechte Seite, in Rußland beim Grüßen zersiebt, mitten im Heil ratterte die Kalaschnikoff, Pech gehabt, weg der Arm, was davon über ist, richtet sich auf den ehemaligen Grenzstreifen: Eine Schande, das, und schon taucht der Mann wieder ab unter ein zeltgroßes Handtuch, das er sich über den Kopf gezogen hat, ganz der biwakierende Soldat im heftigsten Regen vor Verdun. Eisiges Stalingrad, gezittert den ganzen Tag, nachdem er seinen weggeschossenen Arm zur letzten Ruhestätte gebettet hatte; ich hatt' einst einen Kameraden, summt es unter dem Handtuch, aus dem heraus es nach Fisch stinkt, guter Fisch, direkt am Kai in Norderney gekauft, wir sind jedes Jahr auf Norderney, schauen Sie, keine Spur von Blumenkohlgeschwür hier am Fisch, im Gegenteil: lustig schillernde Schuppen, wie vom Herrn geschaffen, und happ, hineingebissen, ein freudiges Klappern von aufeinanderschlagenden Zahnreihen geht durch das Abteil, seit 25 Jahren das gleiche Gebiß, Wertarbeit und gute Pflege, abends immer eingelegt in Corega Tabs, solange es so 'n Fisch gibt, so lange geht die Liebe durch den Magen, anders können wir Alten ja auch nicht mehr, was, Marlene, ein vergnüglicher Klaps auf den Schenkel der Partnerin, die lacht mit, dreht die Heizung wieder hoch, und so fönt es durchs Abteil wie in einem Heringsschwarm im Bauch eines Trawlers, frischer Fisch, die Gräten landen im Aschenbecher zwischen Kippen Lord Extra, Zellophan, Wickelpapier von Toffifees, über die geöffnete Schachtel gebeugt die Frau auf der anderen Seite des Abteils, schaufelbaggernd arbeitet sie sich durch die Süßigkeiten, mathematisch exakte Abfolgen von Zugreifen, In- den-Mund-Schieben, Kauen, Schlucken, schon ist die nächste Delikatesse ergriffen, linke Hand, rechte Hand, pulen in goldschimmerndem Plastik. Und golden ist auch der Handwerksboden des Reinickendorfer Metzgerehepaares, wenn es hinausfährt in die Welt, Lüneburger Heide, hin und zurück, gewandert mit Heidschnucken, Fell mit nach Hause genommen, dort wird es an die Vertäfelung genagelt, schön wie eine Postkarte, aber flauschiger.

Noch während die Metzgersfrau dem anderen, dreiarmigen Ehepaarteam das Beutefell ausbreitet, fachsimpeln schon die Männer über die Geisel der Menschheit vor dem Tod: Die Krankheit, die sich in die älter werdenden Knochen einschleicht. Bakterien, die den Blut- oder Lymphweg nehmen frischweg hinein in die Galle, das Thermometer steigt, Verdauungsbeschwerden treten ein, was aber passiert nun? Cholesterin klumpt sich grieß- bis walnußgroß zusammen, wahre Steine, mit der übriggebliebenen Hand hält der Einarmige sich die Seite, Steine, die, beim Versuch der Gallenblase, sie auszutreiben, zu Koliken führen; was macht man dann? Schnitt und heraus damit, mein Hausarzt hat eine ganze Kollektion von Gallensteinen zu Hause, wie andere Briefmarken sammeln, sammelt der Gallensteine, ach was, aber ja doch.

Die Liebe-durch-seinen-Magen- Frau spricht: Es ist das Fett, Überernährung, zuviel Futter, und schon ist's geschehen: zwar tickt das Fettherz mit gesunden Herzmuskeln, doch, oh Jammer, der Herzmuskel selbst ist durch Fettablagerung und Fettdurchsetzung in seiner Funktion gehemmt; einmal zuviel am durchwachsenen Speck geknabbert, und wumm: das war ihr letzter Herzschlag. Nichts gegen Ihren Beruf, doch ich esse lieber Fisch, ist weniger Fett dran, Fleisch nur manchmal, vom Rind schon gar nicht, kann man ja irre von werden wie in England. Aber doch nicht vom deutschen Rind, entrüstet sich der Reinickendorfer Kenner des Fachs, doch zieht's ihn mehr noch zu den eigenen Betriebsunfällen, Momenten, da rutschte das Messer ab, traf auf Haut, hinein ins Fleisch, scharf gewetzte Messer flitzen durch Epidermis, Corium und Subcutis, zack, schon ist das Messerchen im Hinterhautfettgewebe und will weiter, mir nach, blitzender Stahl, auf zum Knochen, schreit die Klinge; der Metzger zeigt seine Wunden, schon will die Metzgerin mit einer längst verjährten Blinddarmnarbe protzen, der erste Knopf der Bluse ist gelöst, doch was ist das alles gegen den abben Arm, längst zu Humus geworden in Mütterchen Rußlands Boden, die sollen dieses Jahr Rekordernte haben, gegen zerklüftete Wunden, Gewebszertrümmerungen, Ausschneiden von Wundrändern.

Schwarze Klumpen totes Fleisch an seinem Arm sind ihm weggeschnitten worden, ein Weihnachten der Keime, Millionenstädte von Bakterien, Planeten der Staphylokokken, Streptokokken, die Religion hieß: Siegen oder Sterben, Wundstarrkrampf oder Gasbrand; der restliche Fisch aus Norderney, eingepackt in schwarz-rot-goldenes Zeitungspapier, endlich Deutschland, stinkt unter dem Handtuch, vermischt sich mit der Heizungsluft, volle Pulle bläst es aus dem Gitter unterhalb des Fensters, im Abteil hat es auf einmal ein maritim-verdorbenes, stickiges Flirren, in das hinein der Einarmige seine Armamputation als Fata Morgana visioniert, sieht sich liegen auf der Gepäckablage, die letzte zweiarmige Erinnerung ist ein wirklich phantastischer Sonnenuntergang, wie ihn nur der russische Winter hinbekommt, direkt zur Mittagszeit, da blitzt die Stahlsäge auf und einen Schluck Weinbrand genommen, ohnmächtig geworden, denn Äther gab es nicht.

Zisch macht es in diesem Augenblick: die Bierdose zwischen die Knie geklemmt, riß der Einarmige sie mit der Hand auf, die überlebt hat; steht er richtig im Koordinatensystem der Windrichtungen, dann ist es diese Hand, die wir im Westen finden, verloren ist der Osten und Polen da, wo er Phantomschmerzen hat; das Land ist doch der Körper der Nation, darum zieht es ihn nach Leningrad, dahin, wo sein amputierter Teil sein muß, meine ganz persönliche Wiedervereinigung; Reise ist gebucht, Päckchen vorausgeschickt, wir haben auch gespendet, Rußlandhilfe, haben leere Regale im Fernsehen gesehen, kurz vor Weihnachten, die sollen doch auch was unter der Tanne haben, ich stelle es mir so vor: Flackernde Kerzenstummel im harten russischen Winter werfen unregelmäßiges Licht auf das Lachen der Kinder, wenn sie sich über die Care- Pakete freuen, oh ja, das Christkind ist ein Meister aus Deutschland, außen Schokolade, innen Nougat, da glänzt das Reinickendorfer Metzgerauge, diese Freude, draußen heulen die Wölfe, drinnen prasselt das Feuer... Sag mal, haben die überhaupt Heiligabend da? Ja klar, dürfense aber nicht bei erwischt werden, sonst ab in die Taiga, red keinen Unsinn, heute doch nicht mehr, mit Gorbi, soll ja getauft sein der Mann; russisch-orthodox; was? Russisch- orthodox! Was 'n das? Wie katholisch, nur für Mongolen.

Weihnachten in Rußland, der Einarmige seufzt, löscht das Seufzen mit Bier, Erinnerung macht durstig, Fisch auch, Weihnachten, da hat's ihm den Arm abgeschlagen, so was nenn' ich mir ein Geschenk, kriegt man nicht alle Tage, höchstens zweimal im Leben. Als er nach der Operation aufgewacht ist, haben die Kameraden den letzten Weinbrand ihm gegeben, Prost Werner, Prost Kameraden, ja, der Werner gibt einen aus, heut einen Arm, morgen einen Fuß, sag der Mutter einen letzten Gruß, und dann weg mit der Extremität, ab in die Latrine, im Stehen hinterhergepinkelt und dabei über den Westerwald gepfiffen: so wollen wir alle beerdigt sein.

Das heißeste Fisch-Abteil der Reichsbahn, im Dunst aufgelöste Flundern, aufgeräuchert von Dannemann Brasil, Geruch wie Nebelwolken in Schweißfußmoschus, alles gesättigt von einer Intimität, die sich herstellt über Narben, Krankenhausaufenthalte, Fieberkurven, Stuhlgang. Anamnesen kreuzen die Klinge, Hausrezepte wandern von Hand zu Hand, Biographien verketten sich im Leiden in und an der Welt, rasch geht's in die Politik, von der alle betrogen sind, die da oben Verbrecher, alles Verbrecher, braucht man nur aus dem Fenster zu gucken, kann man es schon sehen.

Ist schon Zeit, sich zu duzen? Es ist. Werner ist des Einarmigen Name, seine Frau heißt Marlene, wie die Dietrich, nur jünger, die Reinickendorfer werden Edgar und Britta gerufen, reimt sich fast, Edgar und Brittar, da muß man ja glücklich bei werden, oh ja, glücklich sind wir, nächstes Jahr Silberne, nie Streit gehabt und zwei Kinder auch, beide Abitur, sonst wird man heute nix mehr, nu aber: raus aus dem Abteil geguckt, was sehen wir? Alles verlottert, alles runtergekommen; blühendes Deutschland, jetzt Ruine; Äcker, die keine Ernte tragen: kann man nicht essen, was da wächst, Kolchosenkartoffeln, schmecken wie Knüppel auf 'n Kopf, steckt der So- zia-lis-mus drin wie 'n Wurm im Apfel, einmal reingebissen, schon gucken dich die Viecher an, Augen wie dem Erich-der-Verbrecher seine, echt jetzt. Aber warum, warum nur sehen diese Villen da, na da doch, Werner, die da, nee, weiter rechts, sehen aus wie im Westen, richtig schmuck, gar nicht grau, wer hat denn so was inner Zone? Stasi, sagt Britta, klar doch, sagt Edgar, kann sonst keiner haben von den einfachen Leuten, so was, sagt Werner, Betrüger, die, sagt Marlene, die nicht die Dietrich ist, aber gerne die Zarah Leander wäre, Waldemar, ach Waldemar, du tanzst so wunderbar, bester Tänzer im ganzen Reich, besser noch als Johannes Heesters, der alte Charmeur, der er ist: hat sogar KZ- Wächter weich gemacht, der Mann. Und so verwickelt sich auch Marlenes Kopf, wer weiß schon, wie die Gedanken sich verknüpfen, kleine graue Zellen schießen auf merkwürdigen Bahnen knapp unterhalb der Schädeldecke entlang, eins zwei drei im Sauseschritt, Marlene denkt mit; Stasi, schallgedämpft, aber bestimmt, sagt es Marlene im besten Lächeln, smart, gnadenlos, Kopf- ab-Grienen, alle ab ins Gas, wenn ihr mich fragt. Die Reinickendorfer, ein wenig erschrocken: Meinst Du? Klar, was denn sonst, das ist Werner nu wieder, fast hätte er auf den Tisch gehauen, ging aber nicht, Arm fehlt, in der anderen Hand immer noch die Dose Bier, tscha, Werner, Pech gehabt: die Rache der Russen; jetzt aber wieder 'nen anständigen Zug Bier, letzte Fischreste, die sich in der Lücke zwischen Gebiß und Gaumen festgesetzt hatten, weggespült: Leute, so jung kommen wir nie wieder zusammen, recht hat er, eben. Er steht auf, mal für kleine Mädchen gehen, Konfirmandenblase heute, nu Britta wieder: och, in ihrem Alter, nichts für ungut, aber, kann man doch froh sein, kein Plastikrohr drinstecken zu haben mit Plastikbeutel und so was, ha, da würde sich Werner aber eher aus dem Krankenhausfenster stürzen, mit ihm nicht, so 'ne Schweinerei, nicht mit mir, und reißt die Abteiltür auf. Für einen Moment kommt frische Luft in das Abteil, dann schlägt die Tür wieder zu. Jetzt hast du ihn beleidigt, sagt Edgar zu Britta, und Marlene: Ach was, Werner kann Spaß vertragen.